10.-17.08.2014
Voller Tatendrang ging es an jenem Samstagmorgen ins Wallis. Alle drei waren wir vor kurzem unterwegs gewesen und wussten uns für unsere Verhältnisse sicher, fit und einigermaßen akklimatisiert, das Wetter konnte nur noch besser werden und es war Mitte August, eine gute Zeit für die höheren Berge. Entsprechend erwartungsvoll fiel die Planung aus – selbst der Plan B wäre ein Jahreshighlight gewesen.
Nach der entspannten Anreise und einer Nacht in Täsch einigten wir uns angesichts der vorhergesagten starken Winde auf eine Hütte, wenn auch auf eine besondere: Das Mischabeljochbiwak (3847m). Dies bedeutete zwei tolle Tourenmöglichkeiten, aber auch einen mehr als 2500hm langen Aufstieg bereits am ersten Tag, wobei die Schwierigkeiten nach oben hin zunahmen und der Weg zur Unterkunft nach der Hochtourenskala als PD+ bewertet wurde.
So ging es zuerst entspannt zur Täschalp, dann immer steiler durch das nach links abgehende Seitental hinauf. Wir liefen über bunte blühende Wiesen, fotografierten Edelweiße und freuten uns auf das Hochgebirge, obwohl das Wetter leider doch nichts Gutes versprach. Ein kleines Abenteuer lieferte ich mir selbst: Bei der Pause nach dem steilsten Stück ließ ich meine Kamera den Hang hinunterrollen, was sie sehr gern tat und erst fast 100hm tiefer und mit gebrochenem Polfilter zum Liegen kam.
Vorbei am Beginn des Weingartengletschers steigt man übers Geröll orographisch links davon weiter bis man vor einem Felsriegel steht. Dieser muss erklommen werden, was über einen gut aussehenden, aber schlecht zu kletternden Kamin oder – besser – weiter links über plattiges Gelände nahe des Bachs (kurz II°) geschieht. Hier gibt es auch zwei alte Einschlaghacken, die bei Bedarf etwas Sicherheit suggerieren können. Danach waren die ersten 2100hm des Aufstiegs geschafft, der anstrengende Teil kam aber erst.
Es war 17 Uhr abends und der Schnee, inklusive der frischen 10-15cm von der letzten Nacht, entsprechend aufgeweicht. Der Seilerste hatte es richtig schwer, wir beiden rutschten in seiner Spur trotzdem immer wieder nach und „fanden“ auch genug Spalten. Die Zeit schritt unerbittlich fort und auch der angekündigte Wind kam auf; es wurde kalt.
Für die 400hm brauchten wir mehrere Stunden. Vor dem letzten steileren Aufschwung fragte ich mich, was der (sehr fitte) vorne Gehende so lange macht – es schien ganz einfach, die letzten Meter hochzustapfen. Dann sank ich selber immer wieder plötzlich ein (Spalten?) und musste die ganze Restenergie mobilisieren, um weiter zu kommen. Wenige Meter von der Hütte wartete dann die letzte Herausforderung: Eine Leiter. Der Wind war inzwischen stürmisch und die Hände eiskalt. Froh immer noch am Seil zu sein, klammerte ich mich am Geländer fest und wurde schließlich samt Steigeisen in die Hütte gezogen. In der zum Glück solide gebauten Biwakschachtel vibrierten sogar die Bänke.
Und nun saßen wir bei Windstärken um 90km/h auf 3847m fest. Weder an die Alphubel-Überschreitung noch an den schwierigeren Täschhorn war zu denken, obwohl wir direkt am Einstieg wohnten. Selbst zur nur 1m weit entfernten Toilette wurde ungern rausgegangen, von den 2,5m zum Schneeholen ganz zu schweigen. Aber die für 24 Personen ausgelegte Schachtel war sauber und komfortabel, also beschrifteten wir unseren Ausflug „Akklimatisation“ und blieben den ganzen nächsten Tag entspannt drinnen.
Obwohl die Hütte recht hoch liegt, fühlten wir uns am ersten Tag wohl, aßen und schliefen gut. In der zweiten Nacht wachte ich aber plötzlich mit dem Gefühl auf, mich aufsetzen zu müssen, tat es dann und schlief mit mehreren Kissen unter dem Oberkörper wieder ein. Am Morgen stieg die Herzfrequenz im Vergleich zum Vortag deutlich und ich hatte Luftnot selbst bei einfachsten Aktionen wie Essen oder Anziehen – (beginnendes) Höhenlungenödem. Da wir sowieso absteigen wollten, war dies wenig dramatisch, ein Alarmzeichen für später aber allemal.
Der Höhenwind hielt an, die Sicht besserte sich aber. Wir befanden uns knapp über der zerrissenen Wolkendecke und fühlten uns wie Außerirdische im Raumschiff-Biwakschachtel. Nur für diesen Morgen lohnte es sich aufzusteigen, zu warten, ja, sogar in die Berge zu fahren.
Der Abstieg war ebenfalls grandios. Nur 100hm nach dem Start verschwand der Wind und wir genossen einen klaren, warmen Tag mit phantastischen Ausblicken. Der Schnee auf dem Gletscher trug übrigens bestens und war diesmal kein Problem.
Unten im Tal wartete eine schlechte Nachricht auf uns: Das Wetter sollte sich erstmal nicht bessern. Unten war es gar nicht soo schlecht, aber an höhere Berge war nicht zu denken. Außerdem überlastete einer von uns einen Fuß und brauchte Ruhe. Also machten wir uns zu zweit auf, um die Gegend zu erkunden. Eine gute Stunde dauerte der Spaziergang vom Camping nach Zermatt, wo wir Postkarten besorgten und uns freuten, wieder ins ruhigere Täsch zurück zu kehren. Noch nie war ich in einem Touristen-Bergdorf und war überrascht den Unmengen an Nichtbergsteigern/-wanderern, die die an sich schöne Ortschaft okkupierten.
Am nächsten Tag ging es auf den Platthorn. Zwar haben wir ursprünglich das Mettelhorn angepeilt, waren uns aber nach 1300hm im Aufstieg bei oben bescheidenem Wetter einig, mit gutem Gewissen absteigen zu wollen. Ich tauschte dabei Berg- gegen die Laufschuhe und genoss einen wunderschönen Trail zurück nach Zermatt auf trabende Weise. Mit Abzug einer längeren Pause brauchten wir für 1300hm (ruhig) rauf und (zügig) runter sowie ein paar Kilometer etwa 4 Stunden, was eine erste Einschätzung für den anstehenden UTMB erlaubte.
Noch erkundeten wir die Gorner Klamm und liefen anschließen noch mehrere Stunden durch die Bilderbuchlandschaft; photographierten das Wasser und die unzähligen Schmetterlinge, bewunderten reiche Blümenwiesen, atmeten den überall aufsteigenden Duft ein und schalteten einfach nur ab.
Und dann war schon der Samstag, für mich der vorletzte Tag. Endlich sagte der Wetterbericht das, was wir wollten, also sprangen wir am Morgen in die Bahn nach Zermatt und nahmen die erste Gondel zum Klein Matterhorn. Obwohl für uns „Bergfahrten“ normalerweise nichts mit Seilbahnnutzung gemeinsam haben und vor allem das „by fair means“ zählt, war das diesmal die einzige Möglichkeit, vor der Abreise noch etwas zu machen. Von der oberen Station stiegen wir auf den „leichtesten 4000er der Alpen“, das Breithorn, waren als erste oben und gingen den teilweise schmalen Firngrat noch bis zu den ersten schwierigeren Stellen. Der an sich leichte Spaziergang war dennoch fantastisch schön und die hochalpine Szenerie mit dem Monte-Rosa-Gletscher unten, Castor, Pollux, Lyskamm usw. einfach überwältigend.
Runter vom Breithorn, legten wir im Bivacco Rossi e Volante unsere „Handtücher“ aus: Die Hütte, die wie ein Adlerhorst an einem Felsen klebt, ist klein (für ca. 10 Personen) und wir wollten sicher Platz haben, bevor wir zum Pollux aufsteigen. Beim Aufbruch seilten wir uns bereits drinnen an und scherzten, dass es jetzt wohl zur Regel wird. Ich fand es jedoch weniger witzig und „freute“ mich schon, beim nächtlichen Toilettengang Steigeisen anziehen zu müssen…
Fast als letzte stiegen wir in den steilen Schneehang zum Pollux ein. Dann folgten einige Felspassagen, entschärft durch Tauen. Trotzdem stiegen wir am Seil hoch und sicherten – das ist kein Gelände, in dem man stürzen darf und oben gab es noch genug potentielle Steinlostreter.
Auf dem Gipfelgrat waren wir bereits ganz alleine, genossen den restlichen Auf- und Abstieg inkl. Abseilen und wanderten entspannt zurück zum Bivacco Rossi e Volante.
„More people – more love“ meinten die Italiener, als wir kamen. Aus jeder Ecke leuchteten Menschenaugen entgegen und es gab nicht einmal einen Stehplatz mehr. 17 Personen waren bereits im Häuschen, drei weitere sollten noch kommen. Unsere Rucksäcke banden wir draußen ans Geländer an, gekocht wurde in Schichten während alle nicht Beteiligten sich auf die Matratzen verzogen. Der einzige Vorteil: Obwohl es draußen nahezu zweistellige Minusgrade gab, hatten wir drinnen über 20°C…
Die Nacht war also schon ein Abenteuer. Am Morgen ließen wie die anderen packen und blieben selber noch dösend in den Schlafsäcken. Erst als die Sonne schon ferne Gipfel anleuchtete, zogen auch wir die Stiefel wieder an.
Der Plan war, die Felsen am Breithorn-Mittelgipfel genauer anzuschauen. Wo dabei das Anschauen endet und das Klettern beginnt, war unklar und schon bald sahen wir uns einer Entscheidung gegenüber gestellt. Einer von uns wollte in die Route nicht einsteigen, ließ uns aber großzügigerweise offen, es doch zu tun. Er blieb an der Einstiegsstelle und wartete bis er sich einer vorbeigehenden Seilschaft anschließen und zum Klein Matterhorn zurück kehren kann.
Zu zweit stiegen wir zu den Felsen auf und vorbei am IVer-Aufschwung nahmen die steile Firnleiter links davon. Bei aperem Fels wird die Stelle auch mit III° bewertet, dank dem Schnee war sie jetzt aber einfacher.
Die nachfolgenden Felsen waren es aber nicht. Da wir nur ein paar Bandschlingen zum Sichern hatten (wollten ja die Felsen „nur anschauen“) und diese nicht immer gut zu legen waren, hatte der Vorsteiger es nicht leicht und auch ich mir der recht provisorischen Sicherungen bewusst. Deswegen gingen wir immer, wenn es möglich war, frei und kamen so zumindest zu Beginn gut voran.
„Point of no return“ war dabei schnell erreicht – die steilen Firnstücke abzuklettern hatten wir wenig Motivation. Insgesamt fühlten wir uns aber in der Route wohl und genossen die phantastische Aussicht an diesem einmaligen Tag.
Das nutzten auch die Hubschrauberpiloten und flogen mit ihren Gästen teilweise ganz tief über uns. Einmal, extrem exponiert stehend, fürchtete ich sogar, die Luftwelle abzubekommen und ging in die Knie, es kam aber nichts. Wahrscheinlich wissen sie, was sie tun und wie tief sie fliegen können ohne die Tourengeher vom Grat zu pusten, etwas störend empfand ich diese Flüge aber trotzdem.
Es sind drei Steilaufschwünge zu meistern mit jeweils 1-2 schwierigeren Stellen. Bei einem Spreizschritt zwischen dem Firngrat und dem Fels – an sich einfach, aber sehr ausgesetzt – ging ich nicht angeseilt voran, was ich im Nachhinein nicht wieder tun würde. Später kletterten wir einen Kamin, der für uns die eigentlich Schlüsselstelle der Tour war: Mein Partner schaffte es frei, ich traute es mir nach einem ersten Versuch nicht zu. Obwohl die Stelle halb so wild aussieht, braucht man einen-zwei dynamische(re) Züge, die ich in dem Gelände ohne Seil nicht wagen wollte.
Weiter ging es über den luftigen Grat zum letzten Steilaufschwung. Als schon der abschließende reine Firngrat zu sehen war, kam noch ein überhängendes Türmchen, das trotz guter Griffe richtige Kletterei erforderte. An seinem Fuß gibt es jedoch den einzigen Hacken seit dem 4022m-Sattel und auch von oben konnte man gut sichern.
Insgesamt ist die Route atemberaubend schön. Man schaut in die zurück gelegten Abschnitte und glaubt es nicht, dort gewesen zu sein. Die Aussicht auf die umliegenden Berge und zum zerklufteten Monte-Rosa-Gletscher ist unbeschreiblich. Der Fels ist gut. Gruselig fand ich nur manche Wechten: Dank den Löchern von den Eispickeln einem Sieb ähnlich, erlaubten sie eine wunderbare (Durch-)Sicht in die Breithorn-Nordwand – darauf könnte ich gern verzichten…
Nachdem man den Mittelgipfel überschritten hat, bleibt nur noch ein Spaziergang über den einfachen, aber aussichtsreichen Firngrat zum Westgipfel. Müde, aber glücklich stiegen (und rutschten :)) wir über den am meisten begangenen 4000er-Hang der Alpen ab und trafen an der Bahnstation auf unseren Freund, der ebenfalls hier gut angekommen ist.
Die Seilbahn brachte uns wieder nach Zermatt, wo es 20° über Null hatte und wir uns wie die Aliens vorkamen. Nach einer Dusche auf dem Campingplatz und einem letzten Abendessen zusammen verabschiedete ich mich von den Jungs und stieg in den Zug Richtung Deutschland ein. Die Fahrt war trotz Verspätungen zwischendurch recht kurzweilig und wie immer saß ich am Morgen geheimnisvoll lächelnd auf der Arbeit.
Es ist immer noch nicht zu glauben, dass der letzte Urlaubs- und höchstwahrscheinlich der letzte Hochtourentag 2014 ein so geniales Geschenk für mich bereitete wie es die halbe Breithorn-Überschreitung war. Aber auch die restliche Woche mit der unbeschreiblichen Morgenstimmung vom Mischabeljochbiwak, schöner Tour auf den Pollux, Trailrunning am Platthorn und vollkommen „entschleunigter“ Fotowanderung um Zermatt herum werden in Erinnerung bleiben. Ein Bergurlaub wie man ihn haben will.
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