Rengsdorf – Bonn 24.-25.11.2012
„Irgendwann musst du nach Biel“ – obwohl ich das Buch nicht gelesen habe, klangen diese Worte im Kopf wie ein Mantra, wie etwas zum einmal sehen und danach sterben. Dann begann ich zu rechnen und erschrak selbst: Bieler Laufwoche im Juni 2013 war genau an meinem letzten Wochenende als Praktikantin in der Schweiz. Mehr zu entscheiden gab es nicht, ich fühlte mich bereits angemeldet.
„KoBoLT in Bonn wäre genau was für mich, doch dann sah ich die 106km“ – schrieb jemand in einem Wanderforum. In Bonn? Wann?? Ah, Einladungslauf… Drei Wochen später schickte ich den Veranstaltern eine Email und bat um einen Startplatz, egal auf welcher Distanz. Überraschenderweise bekam ich auch einen und auf einmal änderte sich alles: Ich konvertierte zur Läuferin.
Vier Monate lang dachte ich an den KoBoLT. Lief, meist genussvoll und locker, manchmal aber auch müde und lustlos vom gerade angefangenen Arbeitsleben. Ich lernte in Dominik einen netten und geduldigen Trainingspartner kennen, mit dem wir das nächtliche Siebengebirge unsicher machten. Einmal standen wir ungeplant um 22 Uhr auf dem Drachenfels, wo es mir vom Lichtermeer unter uns den Atem verschlug. Dann aber wieder nach Bonn, danach waren wir beide fix und fertig…
Fünf Kilometer pro Woche sollte die Steigerung betragen und irgendwann eine dreistellige Zahl aufgeschrieben werden. Es war ein Samstag und ich war schon fast zu Hause, als ein unvorsichtiger Schritt diesen Plan durchstrich. Jetzt war ich verletzt und hatte auf einmal eine Menge Zeit.
Nach mehreren Wochen Pause (ich schrieb tatsächlich Woche für Woche eine Kilometer-Null auf) traute ich mich wieder in die Laufschuhe. Die Wade machte sich aber immer noch bemerkbar und mehr als 15km locker traute ich mir nicht zu. Jeglicher Druck verschwand, jetzt hieß das Ziel nur irgendwie anzukommen. Aufs Training kam es nicht mehr an.
Die letzten Tage vor dem Start vergingen wie im Flug und plötzlich stand ich ein wenig aufgeregt, aber sehr optimistisch vor der Startunterlagenausgabe. Dort fiel mir erstmal auf, dass ich heute Morgen über die vorbereiteten und extra vor die Türe gelegten Stöcke gestiegen war – und abgeschlossen hatte. Gut, diese Entscheidung wurde mir also abgenommen…
Während der Fahrt zum Start lernte ich einen Teilnehmer der langen Strecke kennen – den ein Jahr jüngeren als ich M., dessen Marathonbestzeit bei 2:38h liegt. Ich wunderte mich nicht mehr: Bereits im Startbereich war klar, dass die Teilnehmerliste eine „Starparade“ ist und ich hier vollkommen fehl am Platz bin. Aber wieder erinnerte ich mich an einen Lauffreund, der bei unserem ersten Treffen auf einer Veranstaltung „die (Lauf)Nacht ist lang“ meinte. Die Fahrt zum Startort war ziemlich lang, wir verabschiedeten die Langstreckler (140km) und fuhren zu unserem Start, wo es zügig losging.
Ich reihte mich hinten ein und beobachtete, wie die Ersten schon nach 50m falsch abbogen. Das sorgte für allgemeine Erheiterung und sensibilisierte, nicht einfach hinterher zu laufen. Es folgte ein langer Abstieg, perfekt zum „Einrollen“, wie eine Teilnehmerin sagte. Das Feld zog sich sehr schnell auseinander und wir stellten uns auf eine lange Nacht ein.
Bald haben wir uns gut eingelaufen und weit verteilt. Der von mir Eingeholte, mit dem wir 1-2km zusammen liefen, meinte plötzlich, ich sei ihm zu schnell. Obwohl ich anderer Ansicht war (mir wäre etwas langsameres Tempo auch recht!), zog ich alleine weiter und ahnte schon, dass es sich nicht mehr ändern wird. An die Strecke hier erinnere ich mich kaum; meist ging es auf Waldwegen etwas rauf und runter, noch war es hell… Kurz vor der ersten Fotostelle (wir mussten Fotos machen als Nachweise, die ganze Strecke gelaufen zu sein) sah ich plötzlich jemanden vor mir und holte sie auf dem darauffolgenden steilen Aufschwung ein. Aber obwohl ich etwas schneller beim Fotografieren war, lief sie schon bald wieder dicht hinter mir her. Eine Zeit lang wechselten wir uns in der Führung ab, doch da sie die flacheren Anstiege lief und ich ging, war sie bald unerreichbar weit, was mich aber nicht weiter störte.
Kurz vor dem ersten Verpflegungspunkt (VP) sah ich – wieder vollkommen unerwartet – zwei Männer vor mir. Sie waren verdächtig langsam und irgendwann waren wir gleichauf. Nach ein paar Worten lief ich etwas schneller weiter, wurde aber wenige Minuten später von einem von ihnen eingeholt und angesprochen. Sein Partner knickte mit dem Fuß um und wird höchstwahrscheinlich aussteigen und er möchte die Nacht nicht alleine verbringen und schließt sich mir an. Ob ich etwas gegen hätte? Nein, hatte ich nicht. Jedoch war er mir sogar gehend im Aufstieg zu schnell; ich wünschte ihm viel Erfolg und ging mein Tempo. Hier wären meine Stöcke übrigens sehr angenehm gewesen…
Als ich nach 3h42min den ersten VP erreichte (KM 31), packten die anderen gerade. Es dämmerte und ich hatte das Gefühl, dass der Lauf jetzt erst richtig beginnt. Nach 7min und mit ein paar Kleinigkeiten im Magen ging es weiter, noch recht frisch und voller Motivation.
Und wieder kann ich mich an die Strecke nicht erinnern. Hier war ich davor nicht, die Beschilderung war aber ausreichend und der Rest des Tageslichts half, sich nicht zu verlaufen. Irgendwann – es blieben nicht mehr als 12km bis zur Erpeler Ley (nächster VP) und die Nacht war bereits hereingebrochen – stieg ich einen Wiesenhang hoch und bog in ein Waldstück ein. Gerade aufkommende Windböen ließen den Wald rauschen, doch kam da nicht noch etwas anderes hinzu? Ich hörte auf, an meinen Weingummis zu kauen (die beste Marschverpflegung!) und horchte in die Dunkelheit hinein. Jetzt war es unmissverständlich: Eine Gruppe Tiere kreuzte meinen Weg von links – da wo die Wiese war – nach rechts in den Wald. Ich schaltete meine Lampe etwas heller ein und sah ihre unterschiedlich große Schatten – Wildschweine!!! Nachdem alles wieder ruhig war, wartete ich noch einige Augenblicke und lief anschließend laut singend weiter. Obwohl mich die Begegnung wesentlich weniger erschrocken hat als ich mir früher vorgestellt hätte, reichte der Adrenalinspiegel dennoch, um das erste „zieht sich“ zu beenden.
Leider war das nicht das einzige Abenteuer, das mich auf dem Weg nach Linz erwartete. Ich verlief mich mehrmals dicht hintereinander, unter anderem an Stellen, die ich zuvor abgelaufen bin. Die Zeit verging, von 15h konnte keine Rede mehr sein. Ich war aber immer noch relativ fit und freute mich sehr darüber.
Der Aufstieg zur Erpeler Ley kam mir kürzer vor als im Hellen. Die letzten ein paar Meter zum VP waren entspannt – die Gegend kannte ich gut – und schon wird mir mein Dropbag entgegen gereicht.
Trockenes anziehen, Schuhe wechseln (sinnvoll? War doch alles super bis jetzt?), Wasser auffüllen, etwas Suppe trinken und einen Riegel für den Weg einstecken – mehr wollte ich nicht. Essen kann man auch im Gehen, dann kommt man zumindest langsam voran. Den Riegel bekam ich aber nur sehr mühsam und über eine Stunde verteilt runter – wie immer, wenn es anstrengend wird, kann ich nicht essen. Ansonsten ging es aber gut weiter und bald holte ich sogar jemanden ein.
Er war so wackelig auf den Beinen (und stürzte mehrmals!), dass ich Angst bekam. Im Gespräch kam aber raus, dass es “normal” ist. Dies befreite mich vom Helfer-Reflex und wir trennten uns.
Seine Taschenlampe sah ich noch lange; ihr Licht feuerte meine Motivation an. Insgesamt war mir aber klar, dass er mich nur einholen könnte, wenn ich ganz einbreche. Und das war erstmal nicht in Sicht.
Der große Bogen um Bad Honnef, der richtig ins Hinterland geht, zog sich unendlich. Es war stockfinster, meine Lampe reichte nicht aus und die Müdigkeit fing an zu stören. Außerdem war ich hier richtig alleine – kein Mensch, kein Haus, kein Autogeräusch, kein Lichtpunkt am Horizont. Was kann man da machen? Ich sprach mit mir, sprach mit den Tieren, die ich im Wald vermutete, versuchte die nächste Fotostelle zu überzeugen, schon früher zu kommen und fluchte über steinige und feuchte, mit Laub bedeckte Wege. Einige Aufstiege waren so kraftraubend steil, dass ich mich bemühen musste, nicht stehen zu bleiben. Die Fotostelle – „Auge Gottes“ – schien sich immer weiter zu entfernen. Was mache ich hier???
Da war ein Mensch unten an der Straße und rief etwa „du musst nach rechts runter“. Obwohl ich den Ankündigungspfeil gesehen habe, verpasste ich doch die Abzweigung. Wer ist das? Ein Teilnehmer, der auf mich wartet? Kann doch nicht sein… „Willst du einen Riegel?“ Nein, danke, könnte ich eh nicht… Einerseits froh jemanden zu sehen, andererseits etwas enttäuscht, dass es „nur“ ein freiwilliger Posten war, betrat ich den Aufstieg zur Löwenburg. Dass er sich ziehen wird, wusste ich schon, genauso aber auch, dass es der letzte lange Aufstieg ist. Hier durfte man ruhig Energie verbrauchen. Ich aß noch ein paar Weingummis und ging langsam, aber stetig hoch.
Löwenburg!!! Ab hier kenn ich den Weg… geht nach Hause, olé…nach Hause…..nach Hause…..Der Abstieg ist lang und ich weiß nicht, was unangenehmer ist, ein langer Auf- oder Abstieg. Aber ok, diesen da kenne ich gut, es ist ein wunderschöner Trail, versuche ihn also zu genießen…und unten wartet der VP.
Ich habe es tatsächlich hingekriegt, zu singen. Es war ein genialer Abschnitt, an dem ich die Hälfte der mir bekannten Lieder durchgesungen habe. Der Plan, am 3. VP bester Laune anzukommen funktionierte und sei es, weil ich wusste, dass die Strecke jetzt immer einfacher wird.
„Es waren nur drei Personen bis jetzt hier“ – ich konnte es nicht glauben. Ist der Rest vor mir ausgestiegen?! Plötzlich erinnerte ich mich an denjenigen, der sich vorm 1. VP kurzzeitig angeschlossen hatte – ihn habe ich doch an der Erpeler Ley aussteigen gesehen! Naja, dann ist es so. Ich will jetzt weiter und ankommen! Ein paar Schlücke Brühe, noch etwas Verträgliches und schon bin ich unterwegs zum Drachenfels. Der Anstieg ist wie erwartet moderat und ich freue mich wahnsinnig, im bekannten Gelände so nah an Bonn unterwegs zu sein. Posttower ist schon zu sehen!!!
Bald aber böses Erwachen: Schon wieder verlor ich die Markierung. Ein Paar Augen im Wald reflektieren das Licht meiner sterbenden Stirnlampe, eine Gruppe Tiere entfernt sich vom Weg. Ich kann doch nicht falsch sein, die Markierung kommt sicher gleich! Und wenn nicht, soll ich nicht versuchen, meinen bekannten Weg nach Bonn zu laufen?
Nein, das geht leider nicht. Ich kehre um und nehme einige Minuten später den scheinbar parallelen Weg zum Geißberg hoch. Der Wind kommt auf, es wird ungemütlich. Der Anstieg ist brutal steil. Oben schaffe ich es nicht, ein gescheites Foto zu machen, weil meine Lampe zu schwach ist und es sonst kein Licht gibt.
Jetzt erstmal ganz runter, aber es steht noch der Petersberg an. Das Bergauf fällt mir jetzt richtig schwer, es macht keinen Spaß. Kurz vor dem „Gipfel“ bleibe ich stehen, ziehe den Rucksack aus und hole etwas Schokolade und ein paar weiche Waffeln raus – meine Schwäche liegt nicht am Aufstieg, das ist der Einbruch. Ich erinnere mich, am letzten VP außer eines halben Glas Brühe nur 1-2 Mini-Schaumküsse gegessen zu haben. Lächerlich.
Bald geht es tatsächlich besser und obwohl ich über den unbequemen und steilen Abstieg fluche (wie kamen wir hier mit Dominik eigentlich joggend hoch???), weiß ich, dass nicht mehr viel bleibt. Die Wege sind so bekannt, dass ich keine Markierung brauche. An einer Straße treffe ich noch einen der Organisatoren, mit dem wir uns ein wenig unterhalten (die 2-3min kann ich mir leisten; wenn mich niemand während meiner „Orientierungsübungen“ überholt hat, schafft er das auch jetzt nicht mehr). Die restliche Strecke ist kurzweilig und erscheint mir harmlos, ganz im Gegensatz zu unseren Läufen mit Dominik. Die Abstiege jogge ich immer noch ausnahmslos, die flachen Abschnitte werden seit etwa KM 60-65 gegangen. Noch einmal etwas rauf, zum Foveaux-Häuschen, ein Pflichtfoto – und runter nach Bonn!!!
Wo ist die Markierung und wie geht es hier zum Rhein? Das darf doch nicht wahr sein!!! Wieder umzukehren und zu suchen habe ich keine Lust mehr, irgendwie werde ich schon zum Rhein kommen. Auf einem möglichst geraden Kurs – zum Glück sehe ich den Posttower auf dem anderen Ufer – komme ich endlich auf die Promenade und trabe wie so oft Richtung Adenauerbrücke. „Den letzten Kilometer musst Du joggen, die Vorstellung hast Du Dir verdient!“ – an diese Worte aus 2009 erinnere ich mich noch sehr gut. Und trotzdem habe ich keine Lust. Nur die letzten 500m jogge ich wieder, was sich übrigens gar nicht so schlimm anfühlt. Ich habe gar keine Lust, ja, aber gehen würde es noch…
Da steht jemand unter der Laterne und klatscht in die Hände. Macht ein Foto. Geht mit mir rein. Fragt, wie es denn so war. Einer der Organisatoren, Michael! Ich werde die Schuhe los und steige – flink und geschmeidig – in die Halle, wo mich die Ersten und die Helfer herzlich empfangen. Ich befürchte, dass es mir gleich viel schlechter gehen wird und beeile mich deswegen und weil die Augen vom Schweiß brennen in die Dusche. Danach geht es mir aber noch besser und wir verbringen einen schönen Morgen wartend auf die Nächsten und sie begrüßend.
M. aus dem Bus kommt nach 17,5h an – starke Leistung für 140km und 4500hm! Er fühlt sich aber nicht gut, so dass wir anfangen, uns Gedanken zu machen. Etwas später beruhigt sich die Lage und ich lege mich für 1-2h schlafen, um den Tag später genießen zu können. Danach ist die Welt endgültig in Ordnung und ich freue mich, heute noch einiges vorzuhaben.
An angenehmen Dingen blieb noch die Siegerehrung. Ich wurde zweite unter Frauen und vierte insgesamt, nur 18min über dem Frauenstreckenrekord von 2011. Dank Sandra wurde er dieses Jahr aber um eine ganze halbe Stunde vorverschoben. Und dann war es das… Da der Bus nicht kam, ging nach Hause zu Fuß, was kein Problem war.
Jetzt war es wirklich vorbei. Ein guter Lauf, mein erster Ultra, wenn auch mit viel Gehen und nur einer Zeit von 16h09min. Eine lange einsame Nacht in heimischen Wäldern. War schon OK so, dann bleiben die 15h halt fürs nächste Mal 🙂