Stunde für Stunde aufsteigen, um das Grün der malerischen Täler endlich hinter sich zu lassen. Über endlose, monotone Moränen in eine grauschwarze Welt vordringen, in der nichts mehr an das blühende Leben unten erinnert und die selbst im romantischsten Abendlicht unfreundlich aussieht. Mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen werden, ein paar Bissen Nahrung in sich hineinzwingen, dann mit klammen Fingern die steif gefrorenen Stiefel anziehen und die Steigeisen festzurren. Fröstelnd und unbeholfen in die finstere Kälte treten und schon wieder auf einen stundenlangen Anstieg einstellen, nur um eine halbe Nacht und einen halben Tag später möglicherweise einen Gipfel oder eine Route „gemacht“ zu haben – und das wenn alles optimal läuft.
„Lohnt“ es sich überhaupt? Und wenn ja, warum?
Warum gehe ich in die Berge? Warum hüpfe ich um halb vier Uhr morgens wie ein junges Reh durch die Gegend, während ich mich in der Stadt selbst mehrere Stunden später aus dem Bett regelrecht quälen muss? Was bringt mich dazu, zu einem abweisenden Gipfel hinaufzuschauen und begeistert „da will ich hoch!!!“ zu denken? Und wie rechtfertige ich das Risiko (seien wir mal ehrlich, die Chancen umzukommen sind selbst bei einem Berggang im unteren Schwierigkeitsbereich größer, als bei einem Strandurlaub) – oder suche ich es sogar? Warum reicht es nicht, eine der wunderbaren Sportarten in Bodennähe auszuüben, wenn man sich selbst (oder den anderen?) etwas beweisen will?
Auf all diese Fragen versucht jeder Bergsteiger eine Anwort zu geben – natürlich so eine, die in sein Gesamtkonzept passt. Gern gibt man an, egoistisch zu sein, fügt aber schnell hinzu, dass ein Pauschalurlaub doch nicht besser sei. Hier bin auch ich nicht anders und „weiß“, warum ich in die Berge gehe:
Weil ihre Schönheit einmalig ist
„Way down below you’ll never meet
This magic beauty – a tenth of it! –
Which up in the mountains you already saw!“
(aus dem Lied „Vertikal“, V. Vysotsky ,1966. Übersetzung aus dem Russischen von George Tokarev, 2001)
Der Begriff der Schönheit ist zwar sehr subjektiv, dennoch gelten bestimmte geometrische Formen als „schön“ – die Beispiele des Fujijamas oder des Matterhorns mit jährlich Millionen von nicht bergsteigenden Pilgern belegen es auf eine eindrucksvolle Weise. Als Berggeher verbindet man außerdem mit bestimmten Geländeformen wie zum Beispiel Graten gewisse Erfahrungen (grandiose Aussicht) oder sucht wie ein Gourman nach vollendeten, ästhetischen Linien.
Viel besser erklärbar sind dagegen ein Aufwachen über einem Wolkenmeer oder das nur wenige Minuten anhaltende rosa Morgenlicht auf den weißen Schneehängen… Glänzen der eisbedeckten Gipfeln über den grünen Wäldern, glasklare Bäche, wild stürzende Wasserfälle, farbenfrohe Blumenteppiche neben den himmelsblauen Seen und und und…
Weil das Leben dort echt ist
„Outdoor ist, wenn man nach der Rückkehr nicht mehr weiß, wo zu Hause die Lichtschalter sind.“
(Meine Mutter über ihre Zeit in den Bergen)
Am Berg befindet man sich in einem nur wenige Stunden bis Tage umfassenden jetzt-Zustand. Die aktuellen Zeit und Verhältnisse, der nächste Tritt oder Griff, der vor einem liegende Hang, die Wetterentwicklung, Hunger oder Durst sowie die nächste Übernachtung – mehr interessiert einen nicht. Das sind Faktoren, die der Mensch seit Jahrtausenden zu berücksichtigen hat, die essentiell sind um zu überleben. Alles andere, was wir uns im „zivilisierten“ Leben angeeignet haben, erscheint plötzlich mickrig und spielt gar keine Rolle mehr. Wer nicht abstürzen will, darf nicht stolpern; wer einen langen Aufstieg vor sich hat, passt seine Geschwindigkeit an; wer mehrere Tage unterwegs ist, teilt sein Essen auf. Alles ganz einfach!
Weil jede Rückkehr etwas Besonderes ist
„Wir steigen nicht auf Berge, um Gipfel zu erreichen, sondern um heimzukehren in eine Welt, die uns als neue Chance, als ein nochmals geschenktes Leben erscheint“ (Reinhold Messner)
Nach steriler Höhenluft ist der Blumenduft der Täler so wohltuend, dass man sich davon regelrecht betrunken fühlt. Nach Tagen oder Wochen auf Tour wieder andere Menschen zu sehen, es trocken und warm zu haben, in die scheinbar vertraute, aber doch andere Umgebung zu kommen und die Welt generell mit neuen Augen zu sehen – bewusst oder unbewusst, aber auch das macht das Weggehen so reizvoll. Denn selbst wenn man sich schon bald wieder nach der Freiheit sehnt, sich zwischen den beiden Leben – dem offiziellen und dem geheimen – zerrissen fühlt und die Fluchtpläne schmiedet: Ohne diese „Neugeburt“, diese Rückkehr in die „normale“ Welt würde auch ein der größten Reize des Scheidens verloren gehen.
Und das Risiko?
„Den Preis zahlen dann die anderen“ (Maria Coffey, „Extrem“)
Jeder, der irgendwann die subjektiv sichere Zone verlassen hat, stellt sich die Frage, was – wenn. Wenn man sich verletzt und nie wieder aufsteht. Wenn man seinen Partner mit nach unten reißt. Wenn man stirbt und – ja, das auch – wenn man nicht sofort stirbt. Das alles fließt sowohl in die Planung als auch in die Lagebeurteilung am Berg mit ein: Kann ich dort lang? Ist es mir wert? Ist es vertretbar?
Man findet sehr schnell heraus, wo die persönliche Grenze der Risikobereitschaft liegt. Diese wird nach Möglichkeit nicht überschritten; das Restrisiko, das es auch diesseits dieser Grenze gibt, wird in Kauf genommen. Natürlich ändert sich die Wahrnehmung mit Erfahrung, steigendem Können oder auch nur dem Gewöhnen an ständig erhöhte Konzentration (über mehrere Stunden wirklich jeden Schritt exakt zu setzen will auch gelernt sein!). Die Grundregel bleibt aber klar: Wenn die Vernunft oder das Bauchgefühl „nein“ sagen, dreht man um.
Zum Glück sind Situationen, in denen man sich tatsächlich im „gelben“ Bereich befindet, selten. Als Otto-Normaltourengeher bewegt man sich fast immer in den gut beherrschten Schwierigkeitsgraden, was dank den europäisch weitgehend einheitlichen Skalen bereits im Vorfeld zumindest grob einschätzbar ist. Trotzdem bleiben sowohl das Restrisiko als auch der Wunsch nach einem – natürlich möglichst ungefährlichen – Abenteuer, der uns immer wieder dazu bewegt, einen Schritt über die alten Grenzen hinaus zu machen. Deswegen ist die Frage nach dem Risiko in den Bergen – auf mich und meine bescheidenen Touren bezogen – so zu beantworten:
Ja, das Risiko gibt es und ich reduziere es wie ich es kann. Aber das, zumindest minimale, Wagnis macht einen nicht nur technisch, physisch und psychisch stärker sondern auch lässt einen nach dem Abstieg noch lange „leuchten“. Deswegen ist für mich ein gewisses Maß an Unerwartetem vertretbar und ein unabdingbarer Teil des Berggehens.
Hallo Anna
Schöne Gedanken, die du hier niedergebracht hast. Ich stimme gerne zu und besonders gefällt mir „Weil das Leben dort echt ist“. Es freut mich, dass die Berge es vermögen, Menschen, auch wenn nur in Gedanken, zu vereinen und Erfahrungen teilen zu lassen.
Auf erlebnisreiche Touren mit sicherer Heimkehr.
Beste Grüsse,
Chris