Ich dusche warm. Esse gern frisches Brot und Obst. Ich gehe zur Arbeit, übe mich in sozialer Erwünschtheit und ziehe gern Kleider an. Ich liebe „dieses“ Leben, das Quirlige einer Großstadt und die Herausforderungen meines Jobs.
Und dann klingelt der Wecker und ich weiß nicht, wo ich mich gerade befinde. Die reifbedeckte Zeltplane berührt kaltnass das Gesicht, ich drehe mich auf die Seite und spüre sofort den Atem meines Zeltpartners. Statt zwei Zimmer meiner Wohnung für mich alleine, teilen wir hier die 108cm seines Zeltes. Während ich noch zu mir komme, zieht er schon am Reißverschluss und wir bekommen beide eine Ladung Schneepulver ins Gesicht. Ein Vorzelt haben wir nicht, gekocht wird deswegen draußen. Wobei „Kochen“ sich aufs Schneeschmelzen beschränkt, den Rest erledigen Teebeutel und chinesische Nudeln zum Aufgießen.
„Was führt Sie zu uns?“ – jeden Tag die gleiche Eingangsfrage. Einige Minuten und Zeilen später erhaschte ich schon einen Einblick in ein fremdes Leben. Dann noch ein paar Griffe und Blicke, ein Abschlussgespräch und schon falle ich wieder in den weichen Bürosessel.
„Stand!!!“ … „Seil ein… Seil aus!“ Endlich klettern, gleich schmerzen die vor Kälte gefühllosen Finger beim Wiederaufwärmen. Die ganze Aufmerksamkeit gilt dem gräulichen Blankeis vor mir, dem schneebedeckten Fels, den Spitzen meiner Eisgeräte. Die phantastische Aussicht ist gerade nicht existent. An einer Zwischensicherung angekommen, kämpfe ich mit dem Wunsch, mich dort auszuruhen, schüttele aber nur die Arme aus, sammelte das Material ein und klettere weiter.
Es ist einer dieser anstrengenden Tage. Die Konzentration ist am Anschlag, die Kollegen ziehen mit. Höflich und aufmerksam zu jedem, jedes noch so ungewöhnliche Problem ernst nehmen, sich stets der Auswirkungen des eigenen Handelns bewusst sein. Noch beherrscht man die Lage und fühlt sich stärker denn je, die Grenze zum Chaos ist aber dünn. Bleibe ich diesseits, werde ich vielleicht sogar einige Minuten entbehren können, um mir einen Milchkaffee zu gönnen.
…und dieser schmeckt nicht anders, als der stark gesüßte Tee aus der Thermoskanne am Berg. Er schmeckt nach Ruhe, nach einem angehaltenen Augenblick inmitten einer vorbeirauschenden Zeit. Er schmeckt nach Arbeit und Entspannung zugleich. Die Tasse oder den Kannendeckel auf einmal geleert, bin ich bereit, weiter zu machen – die Uhr des Lebens läuft wieder an.
Einen Schritt nach dem anderen. Der Grat ist keine zwei Fuß breit, links und rechts das weiße Tuch steilster, vereister Hänge. Wer hier fällt, hat keine Chance. Das Seil, zwischen uns beiden gespannt, stört mental wie physisch. Stolpere ich und schafft mein Partner es nicht, rechtzeitig auf die andere Seite des Grates zu springen, sind wir beide tot. Gehen wir vorsichtig und sauber, erleben wir eine großartige Tour und Aussicht.
Die Frau weint, der Mann will wissen, wie es weiter geht. Dann fragt sie, wie lange sie es noch hat. Wird sie es mir glauben, dass ich es nicht weiß? Dass es von so vielen Faktoren abhängt, dass sie erst durch die Klinikhölle muss, bis jemand es zumindest grob einzuschätzen wagt? Wie viel Hoffnung und wie viel Ernst darf und muss ich ihr mitgeben? Gerade eben habe ich jemandem sein Leben zerstört; kann ich mir denn überhaupt vorstellen, was die beiden allein heute Abend zu Hause erwartet?
Ich ziehe mich hastig um, hole den Rucksack ab und steige ins Auto meines Bergpartners. Während der 800km Fahrt tauschen wir Neuigkeiten aus, reflektieren letzte Wochen, planen kommende Tage. Irgendwann biegen wir auf einen Feldweg, einen Waldparkplatz oder unter eine Brücke ab und breiten unsere Schlafsäcke direkt neben dem Wagen aus. Noch arbeitstypisch geschminkt, krabbele ich samt Reisehose hinein und versinke für einige Stunden in den tiefsten Schlaf.
Einen Kaffee am Morgen wird es nicht geben. Keine Dusche, kein freundliches „Guten Morgen zusammen“ von den Kollegen. Für nur zwei Tage befinden wir uns wieder in einer anderen, aber genauso gewohnten Welt, genießen oder kämpfen, haben Erfolg oder scheitern, schreiben gute oder weniger gute Geschichten in unsere Lebensbücher. Und wenn am Montagabend, nach einer elendig langen Heimfahrt und einem anstrengenden Arbeitstag wieder die Ruhe einkehrt…. Dann ziehe ich meinen Lieblingsrock an, suche zum Schal passende Ohrringe aus und tauche leise unter die Menschenmassen der immer lebhaften, bunten Kölner Innenstadt.