Es ist finster. Ich hänge 60m unterhalb des Standes, die Abseilprusik bereits eng an den Seilendenknoten, und sehe nur eine schwarze, kompakte Wand vor mir. Habe ich also doch den nächsten Abseilstand verpasst? Aber wo?? Ich pendle. Denke an all die scharfen Kanten im Verlauf der 7,8mm dünnen Seile. Und sehe plötzlich einen Haken. Einen Schlaghaken. Drei Meter tiefer.
Ich fand auch einen Bohrhaken wenige Meter seitlich. Hängte die Selbstsicherung ein und rief mit schlechtem Gewissen „Seil frei“. Denn nach oben zu prusiken, sprich am Seil aufzusteigen, das wollte ich uns um die Uhrzeit nicht mehr antun. Weder Peter, der in der Kälte und im Wind oben wartete, noch mir selbst, die sich zwar bestens fühlte, aber dennoch Sorge und Verantwortung dem Begleiter gegenüber hatte.
Wir kamen wieder in die Route rein, seilten ab, traversierten und beteten, dass wir von keinem der vom Seil ausgelösten Steinen getroffen werden – sehen konnten wir sie nicht. Und dass sich das Seil beim Abziehen nicht verhängt – es tat es natürlich, zum Glück aber erst in der allerletzten Abseillänge.
Es war Anfang November und die Kollegen gönnten mir ein langes Wochenende. Niemand wollte mit – einige planten eine längere Kletterfreizeit in Arco, andere waren krank oder woanders verreist. Ich entschied mich, mit Trailschuhen und leichten Biwaksachen ein wenig Strecke zu machen und den Herbst zu genießen, doch einen Tag vorher wurde Peters Arco-Kletterpartner krank und wir beschlossen, uns zusammen zu schließen.
Wir kannten uns nur aus der Kletterhalle, das Gefühl war dennoch gut. Das „Abchecken“ der Kompetenzen erfolgte erst im Auto: Viel hatten wir zwei nicht vorzuweisen. Meine zwei Routen in den Tannheimer Alpen waren dabei das Wichtigste an Fels-Mehrseillägen-Erfahrung – immerhin war ich auch dort die „weniger Unerfahrene“ und es klappte trotzdem gut.
Wir wählten den Winterraum der Gaudeamushütte als Unterkunft – nur 20min vom Auto entfernt, südseitig gelegen, eine Wasserquelle ist vorhanden. Da es jedoch zu spät war, einen AV-Schlüssel zu organisieren, bereiteten wir uns darauf vor, zu biwakieren, wobei es sich auf nur eine Nacht beschränkte – danach waren Menschen und mit ihnen ein Schlüssel für den Winterraum da.
Alte Südwand, Törlwand (2197m), IV- (Stelle), sonst II-III, ca. 180m (100hm)
Als erste Route wählten wir eine ganz einfache und kurze, aber elegante Linie an der Törlwand. Im kalten Nebel relativ lange zugestiegen, war ich dennoch stark angetan von der Landschaft: Steile Wände, Türme und Grate fast wie in großen Bergen. Und vor allem: Schneefrei! Während südlich von uns alles weiß war und eine Wolkenwalze auf dem Hauptkamm lag, war die Stimmung hier noch durchaus herbstlich.
Den Einstieg schnell gefunden, kletterte ich zügig, aufgrund des leichten Geländes noch mit Zustiegsschuhen, los – in die falsche Richtung. Ein alter, bei näherer Betrachtung ungesund beweglicher Schlaghaken sorgte für Verwirrung, zudem wurde es sehr schnell zu steil und ich kam nicht weit. Abklettern, noch einmal, nun mit Kletterschuhen, starten – und schon lief es. Die Problematik der Orientierung ohne Bohrhaken (nur an Ständen, sonst vereinzelt Normalhaken, sollten ergänzt werden) ist uns jedoch klar geworden und wir aufmerksamer.
Kalt war es! Eisige Finger, Daunenjacke als Rettung. Es ging relativ zügig voran, nur ein Kamin war etwas spannender – ich kam als Michelinweibchen nicht durch und musste mich ausziehen. Wir wechselten uns ab, schafften es, kein „Seilsalat“ zu produzieren und waren nach einigen Seillängen bereits auf dem Gipfel. Es gesellte sich kurz die Sonne dazu und bevor es runter ging, konnten wir sogar eine gemütliche Pause genießen.
Im Abstieg wurde es zunehmend diesig bis dunkel. Es regnete ordentlich und wir rätselten, ob wir morgen überhaupt klettern können werden. Dabei liefen wir unfreiwillig einen Umweg und hätten uns wohl einiges an Umgebung angeschaut, wenn es bloß nicht stockdunkel und auch noch neblig wäre. Also ab zur Hütte, Tee trinken und mit den netten Münchenern quatschen, die sich heute nach einer schwierigen Route ein kleines Abenteuer mit dem Abseilen im Dunkeln geliefert hatten.
Kübelkarsinfonie, Vordere Karlspitze (2260m), V- (Stelle), 330m (250hm)
Ein „cleaner“ Einstieg im IIIer-Gelände, dann eine IV+, dann wieder III, IV usw.. Eine Länge im V. Grad ganz oben – allerdings mit deutlich mehr Haken. Außerdem soll die Route mit die beste in der ansonsten sehr brüchigen Südwand der Vorderen Karlspitze sein. Das klingt doch nicht schlecht?
Der Regen hörte noch am späten Abend auf, um die Hütte herum lag jedoch dichter Nebel und wir beeilten uns nicht. Im Kübelkar angekommen, lichtete sich dieser und binnen Minuten standen wir vor den beeindruckenden Felsmauern. Oberhalb eines Wolkenmeeres, im November in T-Shirts in der wärmenden Sonne!
„Hier müsste der Einstieg sein, die Markierung sehe ich aber nicht…“. „Sieht machbar aus“. „Hmm, ja, müsste richtig sein“. „Wollen wir es versuchen und notfalls abklettern?“ „Ok, du oder ich?“. „Warte, ich schaue doch noch um die Ecke…“
Eine geschlagene Stunde haben wir nach dem Einstieg gesucht. Da wir im Zustieg wegen des Nebels keine Übersicht hatten, wussten wir nicht, dass es etliche ähnliche Rinnen und Vorsprünge hat und wären beinahe falsch eingestiegen. Gut, dass sich mein Bauchgefühl dagegen sträubte…
Wer als erster einsteigt, klettert nicht die darauffolgende IV+. Mich für die allererste Seillänge zu motivieren ist es schwierig, Peter schien dagegen auf die zweite nicht so viel Lust zu haben – somit war die Frage schnell geklärt. Es fanden sich tatsächlich mehrere Schlaghaken in der IIIer-Länge, also lief das Einklettern schon mal angenehmer als gedacht.
IV+. Stelle ich mich gerade an oder warum nörgelt der Kopf rum und wünscht sich immer mehr Friends als Zusatzsicherung? Eine steile, teils abdrängende Verschneidung, in der sich mittelgroße Cams gut verbauen lassen – an sich mein Lieblingsgelände, hier tat ich mir jedoch schwer. Leicht beruhigt wurde ich jedoch am nächsten Tag, als auch ein sehr viel besserer Kletterer als ich dort etwas Zeit gebraucht hatte.
Und wieder leichtes Gelände, gefolgt von einer IV, die sich einfacher anfühlte. Doch irgendwie brauchte mein Begleiter länger, als sonst – bin ich nun gut eingeklettert oder geht es ihm nicht gut?
Es war das Letztere und wir diskutierten, ob wir nun abseilen oder weiter machen. Zuerst legten wir aber eine gemütliche Pause ein, tranken Tee und genossen die Landschaft. Wir einigten uns darauf, noch eine Seillänge lang zu schauen, wie es bei ihm läuft und dann die Entscheidung zu treffen, ob wir umkehren. Hier abzuseilen wäre wegen des Steinschlags nicht das Beste….
Peter ging es langsam besser und wir einigten uns auf Bergauf. Die Kletterei war einfach und wir waren schnell an der doch mit etwas Spannung erwarteten V- (andere Quellen sagen bis V+). Hier verließ uns die Sonne und es wurde schlagartig kalt.
Ein Haken, zwei Haken, drei….Die Sicherung stimmte, Kamine zu klettern kostet mich zwar etwas Überwindung, geht aber gut – Probleme gab es keine. Noch einige Meter zum Ausstieg – und schon stehen wir zitternd im eisigen Wind ganz oben und bewundern die wunderschöne Kulisse.
Dass wir beim Abseilen in die Dunkelheit kommen, war abzusehen und in Ordnung. Spannend ist in solchen Situationen die Frage, ob mal schnell weitermacht, um das letzte Licht auszunutzen – oder ob man sich Zeit lässt, sich auf die Nacht vorbereitet und dadurch dieses letzte Licht verpasst. Häufig hätte ich das Erstere bevorzugt, hier war es jedoch eindeutig: Die Zeit die Daunenjacken und die Zustiegsschuhe anzuziehen, Stirnlampen rauszukramen, Tee zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen war gut investiert – gerade, weil es meinem Partner davor nicht so gut ging und es auch seine erste Nachtaktion in den Bergen werden wird. Die er letztendlich aber bestens mitgemacht hat.
Der Fehler beim Abseilen war es, an einer Stelle, in der zweiten Seillänge, nicht um die Kante gegangen zu sein. Eine erfahrene, starke Seilschaft wird ihn am nächsten Tag wiederholen – trotz unserer Erzählungen und bei hellstem Tage! Ich selbst sah trotz erhöhter Aufmerksamkeit den wegweisenden Pfeil nicht und war ausgesprochen froh, zumindest diesen einen Bohrhaken in der Route gefunden zu haben.
In der letzten Abseillänge verklemmten sich die Seile (ich habe sie wohl unglücklich gefädelt). Wir ließen sie über Nacht hängen – wenn wir noch später kommen, alarmieren die anderen von der Hütte bestimmt die Bergwacht. Das Kar hinab ging es im Feingeröll abrutschend – es ist ewig lange her, dass ich es gemacht habe, Spaß macht es aber immer noch – und dann schnell zur Hütte runter. Dort erwartete uns ein voller Winterraum – zwischenzeitlich kamen zwei weitere Klettergrüppchen hoch. Ein Teil davon lachte uns auch aus, wer verabseilt sich schon, wenn es eine Abseilpiste gibt?
Dem vollen Winterraum bevorzugte ich mein Biwak. Die Nacht war gemütlich und als ich aufwachte, hat Peter schon Frühstückssaft aus dem Auto 20min weiter unten geholt. Nach einem erneut entspannten Morgen stiegen wir wieder ins Kübelkar hinauf, mussten aber nicht einmal klettern, um an die Seile zu kommen: Eine andere in dieselbe Route eingestiegene Seilschaft befreite sie netterweise.
Bevor es nach unten ging, kletterten wir noch die Anfangsseillängen zweier anderer Routen und probierten uns im etwas schwierigeren Gelände. Und dann hieß es wieder: Runterwärts. Aus dem Kar auf den Wanderweg rutschen, an der Hütte die Sachen holen, mit dem Auto nach Kufstein und von Peter verabschieden…
Das Alpinklettern ist mir neu. Die einzelnen Komponenten trifft man auf den Bergtouren zwar immer wieder, ihre Kombination macht diese Spielart des Bergsteigens aber zur neben dem Eisklettern spannendsten. Und auch wenn ein paar Seillängen durch irgendeine Wand für mich wohl nie so erfüllend sein werden wie ein abgelegener all inclusive-Berg – ein reizvoller Zeitvertrieb ist es auf jeden Fall.