16.-17.06.2018
Es ist ein Freitag Mitte Juni. Ich freue mich auf ein entspanntes Wochenende zu Hause, ich habe es mir schon seit langem versprochen. Zwei Wochen vorher haben wir zwei Nächte in Bus und Bahn verbracht, um an einem kurzen Wochenende aufs Breithorn über die Nordwand zu steigen. Letzte Woche und die Wochen davor wurde geklettert. Ich will nur ausschlafen, in Ruhe einkaufen und sogar putzen!
Doch dann trinke ich einen Kaffee. Checke das Wetter an der Zuspitze und stelle fest, dass es trocken und sonnig ist. Und der Plan ist geboren! Die für die Nutzung der BahnCard gesammelten Punkte eingelöst, bekomme ich sogar ein kostenloses Ticket nach Garmisch und buche die Rückfahrt für 23h nach der Ankunft. Ob das reicht?
Nach der Arbeit schnell die wenigen Sachen gepackt, sitze ich kaum eine Stunde später in der Bahn, welche nach einigen Umstiegen um 2 Uhr nachts in Garmisch-Partenkirchen hält. Beim Aussteigen merke ich einen Ultraläufer, der ebenfalls in meine Richtung aufbricht – Gerhard, ein Bekannter! Wir unterhalten uns kurz und gehen jeder unseres eigenen Weges zum Zuspitzgipfel – er mit einer Schleife übers Kreuzeck, ich direkt übers Höllental.
Über die dunklen Feldwege geht es für mich nach Hammersbach. Wie ein Verbrecher schleiche ich durch die Dunkelheit, die Stirnlampe nur an besonders finsteren Ecken einschaltend. An der Kirche in Hammersbach müssen die Füße bereits abgetaped werden – die Schuhe sind nagelneu. Und dann ab in den Wald auf dem bekannten Weg zur Höllentalklamm.
Der Atem geht schnell, aber gleichmäßig. Mir ist warm trotz der Kühle der klaren Frühsommernacht. Das Gepäck ist leicht, mehr als einen Laufrucksack mit einem Leichtgurt, je zwei Schlingen und Karabinern, Kletterhelm, Daunenweste, Handschuhen, Mütze und Regenjacke sowie Wasserflasche, ein paar Riegel und erste Hilfe-Set habe ich nicht bei. Alles in allem vielleicht etwa 5kg. Zügig, aber meditativ geht es immer weiter hinauf.
In der Klamm sind bereits gut ein Dutzend Wanderer und Läufer unterwegs. Die Klammwände sind nachts noch beeindruckender als tagsüber und lenken einen vom Steigen ab. Und danach ist man im Nu oberhalb der noch schlafenden Hütte und am Einstieg in die Leiter. Hier gönne ich mir eine erste kurze Pause und lege ordnungsgemäß den Gurt an, wohlwissend, dass ich mich wohl kaum sichern werde. Die Möglichkeit dazu möchte ich aber direkt vertun.
Meditativ – das ist genau die richtige Umschreibung für die Nacht. Wie immer, wenn es dunkel ist, schleiche ich durch die Gegend, fühle mich unsichtbar, geräuschlos, als ob wäre ich auf der Jagd. Auch als der phantastische Sonnenaufgang hinter mir die glühend rote Kugel auf den Himmel schiebt, auch dann wache ich kaum auf. Erst als ich auf einen Jugendlichen treffe, der ganz offensichtlich übermüdet ist, da schrillen bei mir wohl berufsbedingt die Alarmglocken.
Während wir sprechen, schließt ein Mann zu uns auf und fragt, ob ich Anna sei. Ob ich wüsste, warum er mich anspricht? Meinem überraschten Gesichtsausdruck entnimmt er, dass ich keine Ahnung habe und reicht mir einen Schlüssel rüber – den ich nicht kenne. Und während ich alle möglichen Auflösungsszenarien durchspiele, erklärt er das einzige richtige: Am Bahnhof in Garmisch schoss ich einige Sachen ein, wovon Gerhard, der Ultraläufer, Bescheid wusste. Beim Gurtanziehen an der Leiter muss mir der Schlüssel herausgefallen sein, was ich im Dunkeln nicht merkte. Gerhard, der später dort vorbeikam, fand ihn und überreichte diesem Mann – „Du bist schnell, du holst sie noch ein“ soll er gesagt haben. „Es gibt Zufälle und sie können auch glücklich sein“ meinte es später…
Die letzten Meter zum Zugspitzgipfel waren etwas zäh, deswegen legten wir, noch zu zweit, oben eine Kaffeepause ein – schließlich war es gegen 8 Uhr morgens. Auf dem Gipfel frühstückte derweil eine ordentliche Anzahl an bereits Angekommenen – meist junge Leute in enger Bekleidung und Trailrunnern. Nicht wenige davon werden danach über den Grat gehen.
Nach einigen Metern auf dem Grat verabschiedete ich mich vom freundlichen Schlüsselboten – er war mir zu schnell. Im eigenen Tempo fühle ich mich wohler und auch muss ich mich an die Ausgesetztheit jedes Mal langsam gewöhnen, sie ist nicht mein Ding. Das kann andere irritieren – sowohl der „Bote“, der später umdrehen mir entgegenkommen wird, als auch ein anderer Kraxler werden mir davon abraten, weiter zu gehen, weil ich zu langsam sei. So ernst ich solche Warnungen auch nehme, konnte ich sie nicht wirklich nachvollziehen. 3h45min nach dem Start war ich am Notausstieg – nicht schnell, aber vollkommen im Rahmen nach einer Arbeitswoche und einer durchgemachten Nacht. Für den gesamten Grat werde ich 10h brauchen, eine einstündige und eine halbstündige Pause inklusive – ebenfalls etwas schneckenhaft, aber alles andere als eine gefährlich lange Zeit.
Das Wetter war genial. Warm, aber nicht heiß, klar, trocken, stabil. Das Unterwegssein machte Spaß und die Ausgesetztheit mit jedem Meter weniger aus. Lange ging es parallel zu zwei Jungs, von denen einer mich bereits auf den letzten Metern vor dem Zugspitzgipfel überholt hatte. Ansonsten hatte es immer wieder Gegenverkehr und auch Schnellere.
Wie auch beim ersten Mal fand ich den Grat je weiter umso einfacher. Sobald die Sicherungen auftauchten, wurde es stellenweise ganz entspannt. Gerade die vielen Aufschwünge zum Schluss mussten jedoch im leichten, aber ausgesetzten Gelände abgeklettert werden – man darf weder sie unterschätzen noch unkonzentriert gehen. Die Klettersteigpassagen fand ich dagegen alle ausnahmslos einfach.
Von der Grieskarscharte hieß es, durch einige Schneefelder abzusteigen – noch einmal vorsichtig. Der weitere Weg, einfach und unspektakulär, zog sich – so ist es immer, wenn die Konzentration nachlässt. Irgendwann wurde es dämmrig und als ich wieder an der Höllentalangerhütte war, dunkel. Bis auf eine allgemeine, gut erträgliche Müdigkeit, ging es mir gut; dass ich meine Bahn knapp, aber verpasse, war jedoch auch schon klar. Da die nächste erst am Morgen fuhr, machte ich ab jetzt ganz gemütlich: Sobald es mir gut warm war und ich eine Bank sah, legte ich mich hin und schlief eine halbe Stunde lang. Danach wurde es trotz der Daunenweste kühl, also lief ich mich wieder warm und suchte danach erneut nach einer geschützten Schlafstelle, was im Wald einfach, auf dem Weg von Hammersbach nach Garmisch jedoch nicht ganz entspannt war.
Am Bahnhof gab es erstmal ein wenig Panik: Der Schließfach mit meinen Umziehsachen wollte eine Nachzahlung und ich hatte ziemliche Mühe, um 2 Uhr nachts im schlafenden Garmisch-Partenkirchen Kleingeld aufzutreiben. Während des Wartens danach wurde ich einmal vom Bahnhof-Mitarbeiter freundlich geweckt (ob es mir gut ginge?) – gut zu wissen, dass sie ein Auge dafür hatten. Und um 6 Uhr kam die warme, gemütliche Bahn.
Der Jubiläumsgrat ist keine besonders anspruchsvolle oder (im Verglich mit den Westalpen) atemberaubend schöne Tour. Er ist jedoch so beschaffen, dass der Begeher das Gelände gut beherrschen muss und ein „Durchmogeln“, etwa im Nachstieg, so gut wie unmöglich ist. Für mich war es nach mehreren Versuchen zum einen schön, die Tour überhaupt gegangen zu sein und zum anderen, zum ersten Mal eine fast 24h-Unternehmung im alpinen Gelände zu wagen – und mich dabei gut zu fühlen. Die Belohnung war ein traumhafter Sonnenaufgang, ein perfekter Bergtag und ein 10 Tage-Muskelkater danach. Gern wieder 🙂