Wie tot ist jemand, wenn er tot ist? Und wie können wir jemanden sterben lassen, wenn er schon lange unter der Erde liegt? Bisher verabschiedeten sich die Verstorbenen im Bekanntenkreis mit den schrillen Kirchenglocken und flogen mit dem letzten Ton davon, eine helle Erinnerung und eine sanfte Trauer der Unumkehrbarkeit da lassend. Das stimmte mich demütig und dankbar und ich freue mich heute, diese Menschen in meinem Leben gekannt zu haben.
Vor 10 Jahren, in letzten Zügen meines Studiums, half ich mit, eine Patientin zu betreuen. Die Frau war nicht alt, aber massiv adipös und schwer krank und die ganze moderne Diagnostik scheiterte daran zu verstehen, wo ihre Blutvergiftung her stammte. Jeden Tag bekam sie Besuch von ihrem Mann, einem höflichen Fünfzigjährigen. Und eines Tages wurde ihr Bett leer und frisch bezogen. Wochen später sah ich Herrn K. in der Stadt. Seine großen, schönen dunklen Augen wirkten so farblos, der Blick war auf so eine Art erloschen, dass ich erschrak. Und verstand, dass der Tod weit mehr sein kann, als ein paar Tränen beim Glockenspiel.
Es ist über ein Jahr her seit dem Unfall. Einige Zeit seit der pandemiebedingt verschobenen Trauerfeier. Unendlich lange, seit wir zum letzten Mal zusammen die Welt unsicher machten. Seitdem hat sich so viel verändert… Und auch, wenn wir nie wieder über Gott und die Welt sprechen können werden: Aus dem schmerzhaften Fehlen ist eine Nähe entstanden, eine unsichtbare Begleitung und manchmal auch eine helfende Hand.
Man sagt, die Zeit heilt alles. Der Schmerz vergeht, die Erinnerung bleibt. Nicht selten erschrecke ich noch, wenn ich jemanden von ähnlicher Statur sehe oder eine ähnliche Stimme höre. Es ist dann nicht einfach, sich nicht zu freuen, nicht auf dich zuzugehen und dich zu begrüßen. Doch immer häufiger lächle ich auch, wenn ich feststelle, dass deine Sprüche oder deine Art ein fester Bestandteil meines Alltags geworden sind.
Daran, den Sinn des Lebens zu finden, scheiterten Größten. Doch eine Spur zu hinterlassen, das ist schon viel erreicht. Das Leben vieler Menschen zu beeinflussen, sie weit über den eigenen Tod hinaus zu begleiten, das hast du geschafft und ich danke dir dafür. Fast genauso dankbar bin ich jedoch deiner Freundin und deinen Eltern, die es uns erlaubt haben, uns im größeren Kreis zu verabschieden. Zusammen zu lachen und zu weinen, dich in getrennt gesammelten Erinnerungen wieder zu erkennen und für immer gehen zu lassen. Dieser Tag, der aus Unbekannten Verbündete machte, war für mich enorm wichtig.
Ein Jahr ist eine so schnell verflogene, ohne dich aber eine so lange Zeit. Ich danke dir, Michi. Danke dir für alles. Wir sehen uns dort, wo der Schnee auf den Gipfeln immer in der Sonne glänzt…