Zeltgespenst

…ist unterwegs!

Dent d´Hérens 4171m

„Frühstück gibt es um halb 3!“ – Diego, der Hüttenwirt der Rifugio Aosta, warnt vor der Länge der bevorstehenden Tour. Immer wieder der gleiche Käse im Urlaub! Leicht stöhnend fügen wir uns unserem Schicksal, rollen gefühlt kugelrund aus dem Essraum und gehen um 20 Uhr ins Bett, Rucksäcke bereits tourenbereit gepackt. Die Dent d´Hérens stand nie auf meiner Wunschliste. Ich hatte nur eine vage Vorstellung von ihrer Lage und wusste, dass ihre Name auf eine Verwechslung mit der Dent Blanche zurückzuführen ist. Doch dann fuhren wir „dank“ der Pandemie-2020 in die Alpen statt in den Tian Shan und kamen irgendwie auf den Gedanken, unser (Wetter-)Glück in der Nähe zu Aosta zu versuchen. Und dort steht auch der benannte Zahn, ganz zu Unrecht tief im Schatten des Matterhorns.

Die Dent d’Hérens von der Dent Blanche

Die klassische Zustieg zur aktuellen Normalroute (West- bzw. Tiefmatengrat) führt vom malerischen Lac de Place Moulin (Parkplatz, ca. 2000m) zum Rifugio Aosta. Die Talsperre mit ihrem türkisblauem Wasser und den prächtigen Weidenröschen ist wunderschön, aber auch gut besucht. Auf einem breit ausgebauten Weg passiert man den gesamten See, legt vielleicht noch einen Boxenstop am Rifugio Prarayer am hinteren Ende ein und folgt der klaren Markierung das Tal hinauf. Das Tal ist ebenfalls ein Erlebnis für die Sinne: Der Pfad tänzelt entlang des Flusses, der üppige Blumenteppich reicht bis zu den Gletschern und Wasserfällen im Talschluss. Ganz oben hat man die Wahl zwischen der frisch markierten und gepflegten Variante mit kleinen Gegenanstiegen und dem alten versicherten Steig (für den Aufstieg ist eher die erste zu empfehlen). Ich genoss diesen Zustieg sehr.

Das Rifugio Aosta ist klein und schön gelegen. Der freundliche Hüttenwirt, der Italienisch, Englisch und Französisch spricht, freut sich über Gesellschafft und gibt gern Wetterauskunft: „Für den Montag ist die Hütte ausgebucht, das Wetter muss gut sein“. Jede 2-3 Wochen bekomme er per Helikopter Nachschub an Lebensmitteln, manchmal bringe er auch etwas selbst vom Tal aus. In der Wintersaison sei er häufig allein oben und bei hoher Lawinengefahr könne er sich von der Hütte um keinen Meter entfernen. Im Mai steige er für ein paar Wochen ab und dann beginne auch schon der Bergsommer.

Rifugio Aosta

Wir sind inzwischen bestens akklimatisiert und schlafen gut, umso unbarmherziger ist das Gepiepse des Weckers mitten in der Nacht. Draußen ist es mild und windstill, wir müssen bald unsere Jacken ausziehen. Der Pfad folgt einige Meter den Zustiegsmarkierungen und zieht dann nach links die steile Moräne hinauf – unverfehlbar. Über die anschließenden Firnfelder kommt man auf den Glaciar des Grandes Murailles und steigt immer weiter linkshaltend über eine Steilstufe bis etwa 3540m. Hier hangelt man sich an den Ketten (Achtung sehr brüchig, Steinschlaggefahr) zum Westsattel auf rund 3600m Höhe hoch.

Oben auf dem Grat ist es zugig. Langsam dämmert es; auf dem Gipfel liegt eine riesige fahnenartige Wolke. Es ist nur leicht ausgesetzt und an sich gut kletterbar (II, zum Schluss einzelne Stellen III), in Kombination mit der Kälte, Wind und Uhrzeit zweifle ich allerdings daran, Spaß zu haben. Wir gehen teils frei, teils am laufenden Seil (Friends, Köpfelschlingen) und sichern manchmal richtig und verstauen das Seil nur in der zum Teil blanken Eisflanke in der Mitte – sie ist wie gemacht für Mitreißunfälle. Die anderen Seilschaften gehen hier angeseilt und treten dabei teilweise so unsicher, dass wir Angst bekommen. Andererseits finden wir im Abstieg an einer Stelle 2-3 Spalten; vielleicht wäre das Gehen am Seil und gelegentliches Setzen einer Eisschraube in blanken Passagen die sicherste Lösung.

In den Felsen nach der Eisflanke kommen wir zum ersten Mal in die Sonne – sehr angenehm, um auch die Aussicht zu genießen!

Nach der Eisflanke kommt ein mit Eisenstangen gesicherter Abschnitt, der sich sehr angenehm klettern lässt. Etwas aufpassen muss man, wenn man hier abseilt – teilweise liegt Geröll auf den Platten, welches beim Seilabziehen die Seilschaften unter einem leicht ärgern bzw. umbringen könnte (selbst ist man deutlich weniger gefährdet). Kurz vor dem Gratausstieg entweder direkt auf die Schneide oder rechts zum Stand; beides ist gut machbar. Und dann die Kür: Ein kurzer, ausgesetzter, aber bis auf eine Stelle (kurze Verschneidung+Platte, III, wohl die Schlüsselstelle) einfacher Gipfelgrat mit einem grandiosen Blick zum Matterhorn und anderen großen Wallisern.

Auf dem Gipfelgrat, links das Matterhorn

Im Abstieg hat man die Möglichkeit die Abseilpiste am Ende der Eisflanke zu nehmen oder, bei Stau, wieder über den Westsattel an den Ketten abzuklettern. Für die Abseilpiste ist ein 60m-Seil notwendig (!) und es sollte jeder (!!) Stand genommen werden, auch nach der kurzen (etwa) 3. Abseillänge. Die Steinschlaggefahr hält sich für die eigene Seilschaft in Grenzen, zu mehreren Seilschaften würde ich eher nicht einsteigen.

Der weitere Abstieg zu Hütte ist unproblematisch und man darf sich auf das Diegos Willkommens-Schnäpsle, das üppige Mahl (nur Abwechslung zum Vortag sollte man nicht erwarten) oder den malerischen Abstiegshatsch freuen. Diesmal kann man den See übrigens „unendlich“ genießen (also umso länger, je mehr die Füße weh tun) – versprochen!

Insgesamt war die Dent d´Herens eine gut machbare, mit AD/III° adäquat bewertete, lohnende, aber keinesfalls geschenkte Tour, und das Rifugio Aosta eine urige alpine Unterkunft, an die wir uns gern erinnern werden. Danach ging es für uns zu Fuß in die Schweiz und auf Umwegen ins Val d´Hérens, zur felsigen Verwechslungsschwester von Dent d´Hérens – der beeindruckenden Dent Blanche.

Blumenteppich am Rifugio Aosta

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