12.-13.11.2011
Das Gebiet Ordesa y Monte Perdido (auf Deutsch „verlorener Berg“) wurde noch 1918 zum Nationalpark erklärt, seit 1997 zählt das ganze spanisch-französische Bergmassiv zur UNESCO-Welterbe. Auf der spanischen Seite begrenzen tiefe Täler/Schluchten Ordesa, Añisclo, Pineta und Escuain den Park, nach ihnen wird er auch in Sektoren unterteilt. Ich nutzte ein spätherbstliches Schönwetterwochenende und erkundete zum ersten Mal die Gegend.
Ich kam in Torla gegen 10 Uhr morgens an. Die letzte Stunde verbrachte ich alleine in einem Kleinbus, dessen Fahrer sich offensichtlich freute, überhaupt einen Passagier zu haben. Während der Fahrt verschlug es mir mehrmals den Atem von den Aussichten (der „Abstieg“ von den Vorpyrenäen in Richtung Hauptkamm ist einmalig!), das linderte aber kaum das quälende Gefühl der Überlkeit vom gewagten Fahrstil. Dem Fahrer schien es aber richtig Spaß zu machen, über engste Kurven kunstvoll zu rasen, und wir kamen sogar rund 20 Minuten früher als gedacht an.
In Torla sah ich keine Seele, wechselte die Flüssseite und ging auf einem Fußweg in Richtung Pradera de Ordesa. Herbstliche Farben, türkisblaues Wasser von Arazas und überzuckerte Berge luden immer wieder zu kleinen Pausen und Abstechern zu den Wasserfällen ein, die Zeit verstrich. Ich traf niemanden bis ich nach knapp drei Stunden am ca. 7km und 300hm entfernten Pradera-Parkplatz (ca. 1300m) eintraf und plötzlich mitten im Touristenstrom war.
Nun stellte sich die Frage, ob ich die Wander- endgültig in eine Fototour umbenenne, schließlich war der Tag schon fortgeschritten und vermutlich auch das letzte Wochenende, an dem man gelbe Blätter bewundern kann. Das hätte fast funktioniert, doch ich wollte nicht im Tal schlafen (und ist verboten). Stieg also wie ursprünglich geplant zum Circo de Cotatuero hoch, die ganze Zeit unweit eines Flusses. Auf ca. 1700m kamen mir zwei Wanderer entgegen, die berichteten, dass auf der Faja de las Flores, einem sehr schönen Band-Pfad, zu viel Schnee liegt uns sie umgekehrt sind. Fragten mich nach Erfahrung mit Klettersteigen und meinten quasi gleichzeitig einer„facil“ und der andere „miedo“ (Angst). Sie rieten mir dazu, abzusteigen, weil man oben eh nichts machen kann, ich wollte mir aber zumindest die Clavijas (=Stifte) anschauen und ging deshalb weiter.
Clavijas de Cotatuero sind zwei mit Stiften entschärfte Passagen, eine vertikale und eine horizontale. Die erste ist ein kurzer, aber sehr nasser Kamin, die zweite mit lockerem Stahlseil gesicherte, an einer Stelle recht luftige Querung. Dann war es das schon, wobei es zwischendurch noch ein paar ganz einfache Kletterstellen gibt.
Oben angekommen, konnte ich die Schönheit der Landschaft nicht genug genießen. Absolute Ruhe, nur die mich ohne eine Bewegung beobachtende Gämsen. Sich über die Stufen stürzende Fluss, gestärkt von der Schneeschmelze. Weiße Berge und Wolkenformationen im Hintergrund – der Tag, nein, das Wochenende ist gelungen!!! Mittlerweile war es aber gut 15 Uhr und klar, dass ich niemals mein „non plus ultra“-Ziel (Rif. Goriz -> Abstieg auf ca. 2100m) im Hellen erreichen werde.
Durch das Hochtal stieg ich immer weiter auf. Zum ersten Hindernis wurde der Fluss, den es zu queren galt – Schuhe ausziehen in den Alpen musste ich noch nie und suchte stur nach einer passenden Watstelle. Den zweiten „Hindernis“ fand ich unter den Füßen: Edelweiße! Hunderte, Tausende, Zehntausende!!! Fasziniert, erklärte ich die Gegend zu „meinem“ Edelweißtal und stieg nur ungern weiter, nun über den Schnee. Dieser war aber größtenteils trittfest und sehr angenehm zu gehen.
Das Tal zog sich, die Orientierung war nicht ideal (die für die Pyrenäen typischen Steinmännchen waren verschneit) und ich zunehmend müde. Die Situation erinnerte sehr an unsere Brentatour im Juni dieses Jahres, als wir den Einstieg in den Sentiero Benini unter ähnlichen Bedingungen nicht gefunden haben. Genauso wie damals war es aber sehr sehr schön, was ich natürlich nicht ohne Dokumentation lassen konnte.
Im Orientierungsunterricht habe ich aber schlecht aufgepasst und stieg zu weit auf. Der „Hals“ (Cuello), durch den ich gehen wollte, läge auf ca. 2450m, ich war auf etwa 2600m. Die Querung wurde steiler und ungemütlicher, es war aber auch nicht mehr weit bis auf den Kamm und von dort ginge es lockerer runter. 10-20hm unterhalb des Kammes legte ich aber eine Rutschpartie ein, bei der es mir schlagartig einfiel, dass ich Stöcke und Steigeisen im Gepäck habe. Dass man die Leihsteigeisen anpassen muss, weiß ich nun auch… Es kam wie es kommen musste: Während ich unbequem stehend mit kalten Fingern an diesen Teilen bastelte, brannten die letzten Sonnenstrahlen ab, es wurde dunkel und kalt.
Es trat also das Szenario ein, das ich vermeiden wollte – übernachten zu hoch (hatte nur einen +5°C-Schlafsack mit). Varianten gab es zwei – weiter durch den „Hals“ und hoffen, dass die Orientierung dort wie erwartet leicht ist oder zurück auf dem gleichen Weg. Ich wählte das letztere und stieg gemütlich(Nachtläufer lässt grüßen) den eigenen Spuren folgend zurück ins Edelweißtal. Oberhalb der Clavijas (ca. 2100m) ließ ich mich endgültig nieder und genoss den restlichen Abend aus dem Schlafsack.
Der Tag war lang (frühes Aufstehen wegen der Anreise) und erlebnisreich, die Nacht ziemlich warm und ruhig, so dass ich bis 10 Uhr durchschlief. Damit war klar, dass es keinen Sinn macht, noch einmal zum „Hals“ aufzusteigen – ich würde den Bus verpassen. Deswegen ging es über die Clavijas auf die Faja (Band) de Canarellos, über die ich ins Ordesa-Tal abstieg. Dort wieder viele Touristen, die Schönheit der Arazas-Wasserfälle bei der guten Zugängigkeit würde aber auch ich mir nicht entgehen lassen.
Den Rest des Tages bewunderte ich das grandiose Naturschauspiel, das dieses Tal zu bieten hat. Keine der mir bekannten noch so „wildromantischen“ Schluchten der Alpen hält einen Vergleich mit Ordesa-Tal aus. Außerdem standen noch ca. 15km zurück nach Torla auf dem Programm, bevor ich um 17:30 die Straße sah. Und den Bus, der um 18 Uhr fahren wollte.
Ich sprang wortwörtlich davor, doch der Fahrer machte irgendwelche Zeichen, die ich als „warte“ interpretierte. Um 18 Uhr kam nichts… Die Einheimischen schauten mich wie eine Attraktion an, ich wurde mehrmals gefragt, ob ich irgendwo oben war und die Autos fuhren langsamer, offenbar erwartend, dass ich trampe. Eine Frau hielt sogar an und fragte wo ich hin will, musste aber leider in eine komplett andere Richtung. Um 18:20 war es dunkel und es fuhr nichts mehr. Die Hoffnung, dass der Bus doch noch kommt, bestand nicht mehr – die sind hier immer (!) pünktlich. Ich überlegte, in welchen Busch ich mich für die Nacht schlagen kann und bereute, schon alles aufgegessen zu haben… Als der Bus doch kam. Er holte eine Jugendgruppe ab und war deswegen zu spät.
Der Fahrer verkaufte mir das Ticket und rief die Zentrale an, damit mir ein Platz im (vollen) Anschlussbus reserviert wird. Ein Jugendlicher bevorzugte seine Freundin als Sitznachbarin und machte mir zwei Plätze frei… Und ich machte die Augen zu und plante wie ich hierher für länger komme…