23.-24.11.2019
Zuerst war eine Einladung. Unverhofft flatterte sie ins Haus und wurde wochenlang ignoriert – eigentlich bin ich aus dem Ultra-Geschehen vollständig raus. Zum einen zickt ein Knie regelmäßig rum, zum anderen bin ich (u.a. deswegen) schon vor einer Weile auf den Ergometer umgestiegen und laufe nicht. Doch der Rheinsteig, über den der Koblenz-Bonner-Landschaftstrail führt, ist keine normale Laufstrecke. Der Rheinsteig ist meine persönliche Geschichte, es ist die Strecke, auf der ich so viel erlebt und gelernt habe. Da musste ich wieder hin!
Es war früh klar, dass ich in den Monaten vor dem Start nicht laufen können werde. Mein Freund und ich waren verreist und sind zwar viel gewandert, aber fürs Laufen zählt das erfahrungsgemäß nicht. Immerhin bekam ich es hin, für den KoBoLT neue Schuhe zu kaufen und sie 2-3 Mal á 5-10km einzutragen. Die Voraussetzungen waren also schlecht und umso spannender für mich die Frage, was ich tun kann, um im Ziel anzukommen.
Kann ich die 100km überhaupt noch? Noch vor 5 Jahren hätte ich gesagt „100 gehen immer!“. Jetzt war zugegebenermaßen schon etwas Angst dabei – festzustellen, dass es doch nicht mehr funktioniert. Dass der Kopf nicht will, irgendein Körperteil (zurecht) streikt oder die Kondition nicht ausreicht. Doch ich war meinem jüngeren Ich auch im Vorteil: Mehr Erfahrung, mehr Körpergefühl, mehr Zeit für die Vorbereitung – zumindest im Kopf. Und kein Leistungsdruck. Hier eines vorab: Auch wenn das Zeitergebnis schlecht ist, ging meine Rechnung 100% auf.
Zum Lauf selbst ist nicht viel zu sagen. Bekannterweise gute Organisation, super freundliche Helfer, eher weite Abstände zwischen den Versorgungspunkten (34km-18km-25km-22km). Es war sehr schön, einige Bekannte zu treffen, und ungewohnt, in dieser Jubiläumsausgabe in einer eher größeren Gruppe (40 Teilnehmer) zu starten. Die Streckenlänge wird mit 99km (+3360hm) angegeben; Bart, mit dem ich die letzten 20km zurücklegte, hatte auf seinem GPS 106km – allerdings mit Verlaufen. Meine Kilometerzahl wird irgendwo dazwischen liegen.
Die 34km bis zum ersten Versorgungspunkt verflogen schnell. Ich war allein unterwegs und fand bald das für mich optimale Tempo. Es lief gut; etwas beunruhigend war es lediglich, eine Sehne zu merken – das war auch schon in der letzten Zeit immer wieder so – also schaltete ich etwas zurück, sodass es sich auf einem akzeptablen Niveau hielt. Auch die altbekannten Fußwehwehchen erforderten bei fehlenden Einlagen etwas Management, ließen sich aber auf konstant aushaltbarem Level konservieren.
Rund 3h nach dem Start wurde es dunkel. Die Nacht brachte einen schönen Flow und ich verbrachte jetzt mehr Zeit laufend als gehend. Inspirierend war es auch, von Tobias Krumm, Sieger auf der 135km-Strecke, wie auch letzte Male überholt zu werden und ein paar Worte auszutauschen – er wird für die lange Strecke 2h weniger brauchen als ich für die kurze!!!
Nach einem kurzen Versorgungsstopp in Arienheller (die Kekse waren suuuuuper!) ging es auf die angenehm kurze Etappe bis zum VP2 an der Erpeler Ley (18km). Zum ersten Mal zog nach der Marathonstrecke etwas Unlust durch, insgesamt gab es aber wenig Höhen und Tiefen und ich kam fit und quicklebendig am VP2 (53km) an und war nach zwei Schüsseln Suppe und mit frischen Socken gewappnet schnell wieder unterwegs.
Vieles kann man auf einer Langstrecke handhaben lernen. Man kann abschalten oder die Umgebung bewusst wahrnehmen. Man kann die Strecke in kleine Abschnitte zerteilen und sich über jeden freuen oder das große Ziel, möglicherweise seit Jahren bestehend, vor Augen haben. Man kann ein Deal mit den Füßen abschließen oder regelmäßig den Gang verändern, um Verspannungen vorzubeugen. Doch eines bringt mich jedes einzelne Mal an meine Grenzen trotz vielfältiger, verzweifelter Versuche, etwas dagegen zu unternehmen: Das Einschlafen.
Die Augenlieder sind bleischwer. Ich bewege mich wackelnd, im Zickzack und kann der Versuchung, die Augen ganz zuzumachen, kaum widerstehen. Irgendwann ist es soweit: Ich gehe mit geschlossenen Augen – das funktioniert, wenn auch langsamer. Doch nun will der Schweinehund sich hinsetzen und richtig schlafen, egal wo, wenn auch mitten auf dem Weg.
Damit es nicht soweit kommt, schalte ich Musik ein, möglichst laut. Für wenige Minuten reicht das, danach ist es wieder unendlich schwer, die Augen offen zu halten. Dabei bin ich diesmal bestens ausgeschlafen und auf der Arbeit fand ich die Nächte nie schlimm… Ich konzentriere mich auf die nah gelegenen Gegenstände wie Blätter, Steine auf dem Weg, meine eigenen Hände im Licht der Stirnlampe – für wenige Augenblicke hilft es überraschend gut. Dann beginne ich, in den Wald zu schauen und nach Tieraugen oder -geräuschen zu suchen – davor habe ich eine irrationale Angst und genau sie rufe ich jetzt herbei. Doch im Wald ist es ruhig und ich fühle mich mehr als wohl.
Bin ich denn überhaupt noch auf dem richtigen Weg? Wieder schaffe ich es, kurz wach zu werden, doch schon sehe ich ein Zeichen und der Stresshormonpegel fällt wieder ab. Noch ein Versuch: Essen. Jede ein paar Minuten ein Weingummi, so kann man sich einige Zeit wachhalten. Sind sie zu Ende, beginne ich mit mir zu sprechen oder zu singen – die eigene Stimme zu hören hilft auch. Und da ich heute mehr als genug Akkus habe, wird die Stirnlampe möglichst hell gemacht.
Manchmal hilft es mehr, manchmal weniger; diesmal hilft nichts. Selbst zu zweit unterwegs und uns unterhaltend schlafe ich ein und empfinde es als quälend.
Kurz vor dem VP3, etwa bei Kilometer 75, stehe ich plötzlich an einer Kreuzung, wo es kein einziges Rheinsteigzeichen gibt. Es ist höchst irritierend, war diese Ecke doch vor 10 Jahren mein Standardlaufrevier und auch vor wenigen Jahren noch käme ich nicht auf die Idee, mich hier zu verlaufen. Ich denke an die letzten Kilometer: Konstant steil runter, keine Abzweige. Eigentlich hätte ich nach der Löwenburg in wenigen Kilometern am VP sein sollen. Wo zur Hölle bin ich?
Ein GPS habe ich nicht und das Internet auf dem Handy ist seit Tagen alle. Korrekt wäre es jetzt, wieder zur Löwenburg aufzusteigen und schauen, wo ich falsch abgebogen bin. Einige Minuten lang stehe ich da und überlege, immerhin endlich wach.
Fakt ist, dass ich von der Löwenburg in eine falsche Richtung abgestiegen bin. Da auch der richtige Weg nur runter, zum VP, führt, mache ich einen Umweg und kürze nicht ab. Ich entscheide mich, weiter zu laufen und zu schauen, wo ich rauskomme – wenn auf der falschen Seite des Siebengebirges, dann habe ich Pech gehabt und steige aus. Wenn auf der richtigen, suche ich das VP und mache den Rest der Strecke, um die 100km voll zu laufen, ggf. auch außerhalb der Wertung. Keine 10 Minuten später stoße ich auf die Rheinsteigmarkierung und gönne mir eine längere Pause am VP, wo ich u.a. Lars, einen Freund, treffe. Ihm stehen noch 50km bevor und er legt bald los, ich bewege mich inzwischen ganz gemütlich und nach einem herzlichen Wiedersehen mit Iwi mache mich auf den Weg zum Drachenfels.
Hier kam mir Bart entgegen. „Ich bin irritiert, muss man hier rauf und runter laufen?“ – der Belgier hat mich heute Nacht schon mindestens 3 Mal überholt, weil er sich mehrmals verlaufen hatte. „Nein, das sind Teilnehmer der 73km-Strecke, die hier runter müssen! Komm mit!“ Der an sich viel schnellerer Bart freute sich, eine Ortskundige getroffen zu haben und ich war inzwischen nicht abgeneigt, mit jemandem zusammen zu laufen. Trotzdem werden sich die letzten Kilometer ziehen: Zuerst müssen wir den Abstieg vom Drachenfels länger suchen (der Eselsweg war noch gesperrt) und dann schaffen wir es auf eine bisher ungeklärte Weise, am Petersberg im Kreis zu laufen und diesen zwei Mal zu besteigen. Doch die Extrakilometer stören mich wenig, im Gegensatz zum Einschlafen. Wie sehr ich mir das Tageslicht herbei wünsche…
Ich habe noch nie so lange für diese Strecke gebraucht (17h24min). Noch nie mich so häufig verlaufen (im Siebengebirge ständig, davor gar nicht) und selten so sehr unter Einschlafdrang gelitten. Andererseits hat mich dieser KoBoLT gewundert, ja fast verblüfft: Bis auf eine einzelne Blase hatte ich nichts zu beklagen. Selbst die zickige Sehne hielt sich die ganze Zeit konstant ohne schlimmer zu werden und der anfangs ordentliche Muskelkater war wenige Tage später komplett weg. Und das am wenigsten Erwartete: Die Langstrecklerin in mir ist wieder wach. Es wird Zeit, wieder zu laufen.