31.12.-02.01.2017
„Chef, wenn es geht, würde ich heute gern etwas früher gehen…“– so fing schon so manches kleines Abenteuer an. Chef lachte, meinen Rucksack im Arbeitszimmer sehend, bedankte sich dann für die letzten 1,5 Jahre und entließ mich ein letztes Mal in die Freiheit. Von den Kollegen verabschieden, nette Worte sprechen und hören, versuchen, nicht sentimental zu werden… und sich unheimlich darauf freuen, gleich das gut bekannte Auto meines Tourenpartners zu sehen. Einladen, anschnallen… und erstmal tief und glücklich einschlafen.
Lukas fuhr wieder die gesamte Strecke. Immer noch habe ich vor dem Autofahren mehr Angst als vor allen Spalten des Monte Rosa Gletschers zusammen genommen. Und obwohl das Projekt „Autofahren“ schon länger ansteht (Führerschein habe ich), drücke ich mich davor wie es nur geht.
Es ist kurz vor Mitternacht. Müde erreichen wir das Vinschgau, fahren an der berühmten überfluteten Kirche vorbei und rollen unsere Isomatten neben einem Parkplatz aus. Der Himmel ist phantastisch, doch das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein „Guten Morgen“ mitten in der Nacht. Der Frühaufsteher aus dem Schlafsack links von meinem behauptet, es habe schon sieben Uhr und wir müssten bei diesem wunderschönen Schlafwetter weiter…
Der Plan A war es, im Winterraum der Hintergrathütte zu übernachten und zu versuchen, dem König Ortler einen Besuch abzustatten. Beim Telefonat mit dem Wirt der Hintergrathütte wurde uns jedoch mitgeteilt, dass es keinen Winterraum gibt und der Hüttenschlüssel nach Schäden an der Hütte (an Unbekannte?) nicht mehr rausgegeben wird. Nun ja, es bleibt nichts anderes übrig, als das Hotel Post anzurufen und die Schaubachhütte zu reservieren.
Mit Ausrüstung für alle Eventualitäten (Biwak…) ließen wir die Gondel uns hochfahren und liefen gerade mal 200m weit bis ich schon ein Kakao bestellte. Schließlich haben wir es gerade auf eine Hütte geschafft. Köstlich!
Noch wurde der Hintergrat-Plan nicht verworfen, also zogen wir Schneeschuhe an (Lukas leidet tapfer mit, bis das Zeltgespenst es endlich auf die Skier schafft), liefen 200hm die Piste hinunter, dann etwa 700hm im Bruchharsch hinauf und stellten fest, dass wir uns nicht sicher waren, wo die Route überhaupt verläuft. Das war im Endeffekt aber auch egal: Bei der Schneequalität und je 1,5h mehr für den Zu- und Abstieg als von der Hintergrathütte aus hatten wir eh keine Chance.
Zurück in der Hütte, wurden wir bald zu Tisch gebeten – und beim Anblick der Karte wurden die Augen immer runder. Nein, das war nicht die Menükarte zur Auswahl – das waren die SIEBEN geplanten Gänge! So endete das turbulente Jahr 2016: Unbeschreiblich leckeres Essen, Musik irgendwo zwischen Apres-Ski und Karneval und beheiztes Zimmer mit fließendem Wasser und Licht. Morgen auf Tour? Ach nee, danke ))
Einen Wermutstropfen gab es allerdings: Wir konnten uns nicht daran erinnern, das Auto abgeschlossen zu haben. Deswegen frühstückten wir mit halbwegs gutem Gewissen und stiegen ab, um natürlich verschlossene Türe vorzufinden (gut so). Auf dem Rückweg wartete schon ein Wasserfall auf uns: Bescheidene Eisqualität, aber nicht allzu schwer; nachdem Lukas netterweise ein Toprope eingehängt hatte, kletterten wir etliche Male hoch bis das Eis dem schweizer Käse ähnelte. Für mich war es eine um Längen bessere Übung, als einmal durchzusteigen und weiter zu ziehen. Der Winter war übrigens recht gut zu spüren und selbst die scheinbar nie frierende Eiseidechse am anderen Seilende behielt irgendwann sogar beim Klettern die Daunenjacke an. Ich meinerseits stellte fest, dass beim Turnen, aus schlagen, hooken, rutschen und hängen bestehend, gar kein Blut in die Finger zu strömen scheint (die kompletten 5 Liter werden bestimmt im Kopf gebraucht) und diese erst beim Sichern langsam auftauen.
Nachdem weder links noch rechts vom Seil kaum noch heiles Eis blieb, kam ich auf den (scheinbar) hervorragenden Gedanken, wir könnten ja die Schlucht hinaufklettern. Lukas schaute kritisch, ließ mich aber spielen – und schon turnten wir eine 1-2m hohe Stufe nach der anderen hoch in dieser von der Kälte erstarrten, zauberhaften Landschaft.
Hier und da plätscherte noch das Wasser, es ließ sich aber immer ein guter Weg finden. Oder fast immer. Denn plötzlich standen wir vor einer 7-8m hohen Eismauer, die uns den Ausstieg versperrte. Lukas ließ wieder die Eidechse raus und klebte Schritt für Schritt am Eisfall, ich dachte nur „kein Stress, wird bestimmt ganz einfach, nur rutschen solltest du nicht…. NICHT RUTSCHEN!!!“
Hält? Hält nicht? Der böse Eisfall wurde nach oben hin steiler, brüchig war das Eis ohnehin. Stolz und grinsend kam ich oben an und war noch geflasht von unserer kleinen „richtigen“ Tour schluchtauf heute.
„Schau mal, was hältst du von dieser Rinne?“ – schon wieder war es meine eigene dumme Idee, die mich später fluchen und strahlen lassen wird. Kurze Recherche ergab: Königsspitze Ostrinne, 45°, von der Hütte zum Gipfel 1600hm. Auweia… selbst schuld.
Um 6:02 schlossen wir die Hüttentüre hinter uns. Zügig ging es erst die Piste hinunter, dann im Moränengelände auf und ab. Das Zustiegsschneefeld brachte die Waden zum Glühen (Frontzackentechnik mit Schneeschuhen), dann wechselten wir auf Steigeisen und stiegen mit dem ersten Licht in die Rinne ein.
Fester Firn wie auch in der Taschachwand davor war super (vorsichtig) zu gehen, nach dem sehr schnellen Zustieg brauchte ich jedoch lange, um meinen Rhythmus zu finden und ärgerte mich darüber selbst. In der ersten Engstelle angelangt, sahen wir einen richtigen Eisfall – oder, als mir etwas sympathischere Alternative, angeschneiten brüchigen 2er-3er-Fels. Was die Eiseidechse bevorzugte, war klar. Bei gruselig hartem Eis stieg Lukas vor, hängte uns in den vorhandenen Stand ein und ich beeilte mich hinterher.
Holla die Waldfee. Genauso gut hätte ich in den Fels schlagen kö……..EISSE! Die kaum versenkte Spitze des Eisgeräts brach samt einer Scholle aus, ich rutschte ins Seil. Von oben kam etwa „konzentriere dich, der Stand ist nicht sonderlich vertrauenswürdig“ – ist das nicht genial? Mit inzwischen völlig gefühllosen Fingern kam ich an, ließ das Blut wieder etwas schneller laufen und war nun für mehrere Minuten völlig außer Gefecht – das Wiederaufwärmen tut immer weh, die „Wiedergeburt“ von 10 Fingern fühlte sich diesmal aber richtig erlebnisreich an. Da war es mir auch ziemlich egal, dass sich meine gute starke Petzl Nao (Stirnlampe) gerade vom Helm löste und nach unten flog.
Ein paar Minuten später waren die Hände so warm als ob nichts gewesen wäre. Immer wieder rollten Steine die Rinne hinunter, wir beeilten uns aus der Schusslinie. Der Schnee war mal fest, mal sandig, mal bruchharschig; ich nutzte schamlos aus, dass die Eiseidechse längst Energienachschub brauchte und verschaffte mir ein Erfolgserlebnis, indem ich vorauslief. Der „ich kann es“-Zustand endete jedoch jäh als sich bei einer Minipause ein Handschuh in die Bergschrund-Nirwana verabschiedete. Blöder Anfängerfehler!
Über steilen Schnee und meist in einer passablen Spur ging es am linken (in der Aufstiegsrichtung) Gletscherrand weiter bergauf. Der Schnee wurde immer weniger, das Eis mehr und irgendwann mussten wir entscheiden, wie es weiter geht. Die Eidechse machte diesem Namen alle Ehre, querte mal eben übers Blankeis auf eine Schneezunge und kletterte leise hoch. Ich bevorzugte die Felsnähe, wo es zwar mehr Blankeis gab, dafür aber auch einige rettende Henkelgriffe am Fels.
Oh nein. Gruselig. NIE WIEDER! Komm, mach noch einen Schritt…..NEIN! Ich bleibe hier, ich gehe nicht weiter! Und runter auch nicht! AUA!!! Die nun nackten Finger der linken Hand (Ersatzfäustlinge waren zum Klettern ungeeignet) klebten richtig am Fels und ihre Temperatur rauschte wieder in den Keller. „Komm, ruhig Blut, steig mal Schritt für Schritt hoch!“ „FLUCH!!!….FLUCH!…(fluch…)…auaaaaa“ Sobald die Hand vom Fels war, strömte schon wieder warmes Blut rein und mir blieb nichts anderes übrig, als einige Minuten in einer wackeligen Position mit den Tränen zu kämpfen.
Schnee! Ich liebe Schnee!!! Nach gefühlt (und wohl tatsächlich) 30min kam ich beim inzwischen umgezogenen und trotzdem frierenden Lukas an, der mich fragte, ob wir es noch zum Gipfel schaffen. Und ob!!! Noch lagen wir bestens in der Zeit und das Gipfelkreuz glänzte schon scheinbar einen Katzensprung von uns entfernt. Ich packte den „6000er-Schritt“ aus und stapfte langsam vor, bis nach einem kurzen Gratstück es soweit war: Gipfel!
Im immer stärker werdenden Wind und aufziehenden Wolken blieben wir keine zwei Minuten oben. Die Eiseidechse balancierte entspannt über den Grat runter, ich erinnerte mich jedoch plötzlich daran, dass hier eines Freundes Freundin abgestürzt war – und wurde unsicher. Sekunden später fand ich mich rittlings sitzend auf dem Grat wieder und stand erst 5m weiter auf, als die Spur auf eine Seite des Grats führte. Immerhin kostete die Aktion kaum Zeit.
Anlaufschwierigkeiten im Abstieg habe ich immer und umso mehr, je steiler das Gelände ist. Umso überraschender ist es, dass es nach den ersten, absolut unsicheren, angstvollen Schritten immer besser wird, bis ich eine halbe Stunde nach dem Beginn vollständig im Abstiegsmodus bin, entspannt und sicher gehend. Über die blanken Stellen wurde abgeseilt, der Rest war unproblematisch…nur die arme verlorene Nao wurde nie wieder gesehen.
Wieder Moränen, wieder ein Auf und Ab. Endlich ohne Zeitdruck, stapften wir meditativ zurück „nach Hause“, tranken heiße Schokolade und begriffen, was für eine schöne Tour uns heute geglückt ist. Nicht einfach, aber machbar, lang und durchgehend ziemlich steil, aber wunderwunderschön. Ein toller Jahresbeginn!!!